Stoner: Roman (German Edition)
das leere Haus als eigenartig und unerwartet beunruhigend, doch gewöhnte er sich rasch an die Leere und begann, Gefallen daran zu finden; nach einer Woche merkte er, dass er so glücklich war wie seit Jahren nicht mehr, und wenn er an Ediths unvermeidliche Rückkehr dachte, dann mit einem stillen Bedauern, das er nicht länger vor sich zu verheimlichen brauchte.
Im Frühling jenes Jahres feierte Grace ihren sechsten Geburtstag, und im Herbst begann für sie das erste Schuljahr. Jeden Morgen machte Stoner sie für die Schule fertig, und nachmittags war er rechtzeitig von der Universität zurück, um sie zu begrüßen, wenn sie nach Hause kam.
Mit sechs Jahren war Grace ein hochgewachsenes, schlankes Kind mit eher blondem als rötlichem Haar, heller, makelloserHaut und dunkelblauen, beinahe violetten Augen. Sie war ein stilles, fröhliches Kind und konnte sich auf eine Weise über etwas freuen, die in ihrem Vater ein Gefühl von fast wehmütiger Bewunderung auslöste.
Manchmal spielte Grace mit den Nachbarskindern, meist aber saß sie bei ihrem Vater im großen Arbeitszimmer und sah zu, wie er Arbeiten korrigierte, las oder schrieb. Dann redete sie mit ihm, und sie unterhielten sich – so still und ernst, dass William Stoner eine Zärtlichkeit überkam, wie er sie nie erwartet hätte. Auf gelbe Papierbögen malte Grace unbeholfene, bezaubernde Bilder, die sie feierlich ihrem Vater überreichte, oder sie las ihm laut aus ihrem Lesebuch für Erstklässler vor. Abends, wenn Stoner sie ins Bett gebracht hatte und in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt war, fehlte sie ihm, und er tröstete sich allein mit dem Wissen, dass sie wohlbehalten im Zimmer über ihm schlief. Auf eine ihm kaum bewusste Weise hatte er mit ihrer Erziehung begonnen und sah voll Staunen und Liebe, wie sie vor seinen Augen wuchs und ihre Klugheit sich in ihrem Gesicht abzuzeichnen begann.
Edith kehrte erst Anfang Januar des nächsten Jahres zurück, weshalb Stoner und seine Tochter Weihnachten allein verbrachten. Am Morgen des ersten Weihnachtstages beschenkten sie sich; für ihren Vater, der nicht rauchte, hatte Grace in ihrer der Universität angegliederten, behutsam progressiven Schule einen plumpen Aschenbecher modelliert; William schenkte ihr ein neues Kleid, das er selbst in einem Geschäft in der Stadt ausgesucht hatte, mehrere Bücher und einen Malkasten. Den größten Teil des Tages unterhielten sie sich und saßen vor dem kleinen Baum, um die im Baumschmuck funkelnden Lichter und das wie verstecktes Feueraus dunkelgrüner Tanne leuchtende Lametta zu betrachten.
Während der Weihnachtsferien, dieser seltsamen, im dahineilenden Semester wie ausgesetzten Zeit, wurde William Stoner zweierlei klar: Er begriff, wie wichtig Grace für ihn geworden war, und er begann einzusehen, dass er durchaus ein guter Lehrer werden konnte.
Er war aber auch bereit, sich einzugestehen, dass er bislang kein guter Lehrer gewesen war. Seit dem Tag, an dem er mit Mühe und Not seine ersten Einführungskurse hinter sich gebracht hatte, war ihm der Abgrund bewusst, der sich zwischen dem auftat, was er für sein Fach empfand, und dem, wie er es im Seminar präsentierte. Er hatte gehofft, Zeit und Erfahrung würden diesen Abgrund überbrücken, nur war es nie dazu gekommen. Was er am höchsten schätzte, wurde aufs Schlimmste verraten, wenn er zu seinen Studenten sprach; was für ihn am lebendigsten war, verkümmerte in seinen Worten, und was ihn zutiefst bewegte, wurde kalt und blass, sobald er es aussprach. Das Wissen um dieses Ungenügen machte ihm derart zu schaffen, dass er es für selbstverständlich hielt, weshalb es ebenso ein Teil von ihm wurde wie seine krummen Schultern.
Doch während der Wochen, die Edith sich in St. Louis aufhielt, verlor er sich während seiner Vorträge manchmal derart, dass er nicht nur seine Unfähigkeit vergaß, sondern auch sich selbst und überdies die Studenten. Dann riss ihn die eigene Begeisterung mit, bis er stammelte, gestikulierte und nicht mehr an seine Notizen dachte, die üblicherweise seine Vorlesungen bestimmten. Anfangs irritierten ihn diese Aufwallungen, als erlaubte er sich eine zu große Vertraulichkeit mit seinem Thema, und er entschuldigte sich bei denStudenten, doch als sie anfingen, nach dem Unterricht zu ihm zu kommen, und sich in ihren Arbeiten erste Zeichen von Phantasie und die Ansätze einer zaghaften Liebe zeigten, fühlte er sich ermuntert, etwas zu tun, was ihm niemand beigebracht hatte. Die Liebe zur
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