Stoner: Roman (German Edition)
Literatur, zur Sprache, zum Mysterium des Verstandes und des Herzens, wie sie sich in den kleinen, seltsamen und unerwarteten Kombinationen von Buchstaben und Wörtern zeigte, in der schwärzesten, kältesten Druckertinte – die Liebe, die er verborgen gehalten hatte, als wäre sie gefährlich und verboten, diese Liebe begann er nun offen zu zeigen, zögerlich zuerst, dann mutiger und schließlich voller Stolz.
Die Entdeckung dessen, was er vermochte, bekümmerte und ermutigte ihn zugleich; er fand, er hatte unabsichtlich sowohl seine Studenten wie sich selbst getäuscht. Studenten, die seine Seminare bislang durch stupides Wiederholen bestanden hatten, warfen ihm verwirrte und verärgerte Blicke zu, jene, die zuvor nicht zu ihm gekommen waren, setzten sich nun in seine Vorlesungen und nickten ihm auf den Fluren zu. Er sprach mit größerem Selbstvertrauen, spürte, wie in ihm eine warme, feste Ernsthaftigkeit heranreifte, und nahm an, dass er mit zehn Jahren Verspätung zu begreifen begann, wer er war. Die Gestalt, die er sah, war zugleich mehr und weniger, als er sich einst für sich erhofft hatte. Er spürte, dass er endlich ein richtiger Lehrer wurde, also ein Mann, der sein Buch für wahr hält und dem eine Würde der Kunst gegeben ist, die nur wenig mit seiner Dummheit, Schwäche oder menschlichen Unzulänglichkeit zu tun hat. Es war eine Erkenntnis, über die er nicht reden konnte, doch eine, die ihn derart veränderte, dass niemand ihre Wirkung zu übersehen vermochte.
Als Edith aus St. Louis zurückkam, fand sie ihn daher auf eine Weise verändert vor, die sie zwar nicht begriff, aber sofort bemerkte. Sie kam mit dem Nachmittagszug, ohne dies vorher anzukündigen, ging durchs Wohnzimmer ins Arbeitszimmer, wo ihr Mann und ihre Tochter still beieinander saßen, und hatte gehofft, beide durch ihr plötzliches Auftauchen und ihr verändertes Äußeres zu schockieren, doch als William zu ihr aufsah und sie die Überraschung in seinen Augen bemerkte, wusste sie gleich, dass die eigentliche Veränderung mit ihm vorgegangen war, eine Veränderung, die so tief reichte, dass ihr neues Aussehen seine Wirkung auf ihn verfehlte. Ein wenig distanziert und doch auch verblüfft dachte sie: Ich kenne ihn besser, als mir je klar gewesen ist.
William war von ihrer Anwesenheit und ihrem veränderten Äußeren überrascht, doch kümmerte ihn beides nicht in dem Maße, wie es das früher vielleicht getan hätte. Er musterte sie einige Augenblicke lang, dann erhob er sich von seinem Tisch, ging durchs Zimmer und begrüßte sie ernst.
Edith hatte sich das Haar zu einem Bubikopf frisiert und einen jener Hüte aufgesetzt, die sich so eng an den Kopf anpassten, dass das gestutzte Haar wie ein unregelmäßiger Rahmen ihr Gesicht umschmiegte; die Lippen glänzten orangerot, und zwei kleine Flecken Rouge betonten die Wangenknochen. Sie trug eines der kurzen Kleider, die bei jungen Frauen in den letzten Jahren Mode geworden waren; es hing glatt von den Schultern herab und endete kurz über den Knien. Verlegen lächelte sie ihren Mann an und ging dann zu ihrer Tochter, die auf dem Boden saß und sie still und aufmerksam betrachtete. Edith kniete sich umständlich hin; das neue Kleid spannte um die Beine.
»Gracie, mein Liebes«, sagte sie mit einer Stimme, die für William angespannt und brüchig klang, »hast du deine Mommy vermisst? Hast du geglaubt, sie kommt nie zurück?«
Grace küsste ihre Mutter auf die Wange und betrachtete sie ernst. »Du siehst anders aus«, sagte sie.
Edith lachte und erhob sich vom Boden, wirbelte herum und hielt die Hände über dem Kopf. »Ich habe ein neues Kleid, neue Schuhe und eine neue Frisur. Gefällt’s dir?«
Grace nickte zögerlich. »Du siehst anders aus«, wiederholte sie.
Ediths Lächeln wurde breiter; auf einem der Zähne war ein blasser Lippenstiftfleck zu sehen. Sie wandte sich zu William um und fragte: »Sehe ich anders aus?«
»Ja«, sagte William. »Sehr charmant. Sehr hübsch.«
Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Armer Willy«, sagte sie, um sich dann wieder ihrer Tochter zuzuwenden. »Ich glaube, ich bin auch anders«, sagte sie ihr. »Ich glaube, ich bin wirklich anders.«
William Stoner wusste, dass ihre Worte ihm galten. Und irgendwie wusste er im selben Moment auch, dass Edith ihm, ohne es zu wissen, ohne es zu beabsichtigen oder es wirklich zu begreifen, eine neue Kriegserklärung zu machen versuchte.
VIII
IHRE ERKLÄRUNG WAR TEIL DER VERÄNDERUNGEN , die von Edith
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