Stop Me - Blutige Botschaft (German Edition)
noch weiter verschwimmen. Sie hatte geglaubt, alle Einzelheiten für immer vergessen zu haben – bis vor drei Tagen.
“Über die Feiertage habe ich Besuch”, sagte Mrs. Gulley, “aber ich würde mich freuen, wenn Sie mich danach besuchen würden.”
Die Feiertage. Jasmine verspürte keinerlei Feststimmung oder Aufregung. Weihnachten war für sie zu einem roten Tuch geworden, ein Hindernis, dass ihr nur die Arbeit erschwerte. “Wann würde es Ihnen passen?”, fragte sie und konnte ihre Enttäuschung nur schwer verbergen.
“Dienstag?”
Bis dahin war es noch eine ganze Woche! “Gibt es irgendjemanden hier in der Gegend, der mir schon früher helfen könnte?”
“Frank West könnte eventuell Zeit haben. Er ist gerade erst hierhergezogen, aber er hat viel für verschiedene Polizeireviere in Tennessee gearbeitet.”
Sie klang höflich, aber Jasmine spürte ihre unterschwellige Verärgerung. Mrs. Gulley hatte das Gefühl, ein Recht auf unbeschwerte Feiertage ohne Unterbrechung zu haben, und das hatte sie auch – aber Jasmine konnte nicht herumsitzen und nichts tun, bis die Welt bereit war, sich weiterzudrehen. “Taugt er was?”
“Ich bin besser. Vor allem, wenn Sie eine Alterssimulation haben möchten. Dazu braucht man ziemlich viel Talent.”
Jasmine wünschte, sie würde Mrs. Gulleys offenherziger Anpreisung ihrer eigenen Fähigkeiten nicht so viel Glauben schenken, aber das selbstbewusste Auftreten der Frau und ihre jahrzehntelange Erfahrung überzeugten sie. Hin- und hergerissen zögerte sie, doch schließlich gab sie nach. “Also gut. Wo soll ich hinkommen?”
“Ich arbeite in Kenner, in der Nähe des Flughafens. Wo sind Sie untergekommen?”
“Im French Quarter.”
“Das sind etwa fünfzehn Meilen bis zu mir. Haben Sie ein Auto?”
“Noch nicht, aber ich kann mir eines besorgen.”
“Wie wäre es mit zwei Uhr?”
Jasmine verkniff sich einen Seufzer. “Das ist gut. Wir sehen uns also nach Weihnachten.”
“Mrs. Stratford?”
“Ja?”
“Lassen Sie sich nicht völlig davon vereinnahmen”, sagte Mrs. Gulley und legte auf.
Jasmine saß auf ihrem kleinen Stuhl an ihrem kleinen Schreibtisch in ihrem kleinen Zimmer und legte langsam den Hörer auf die Gabel. Der Rat kam viel zu spät. Seit sechzehn Jahren nahm die Entführung sie gefangen. Seit ihre Schwester verschwunden war, lebte sie unter dieser erdrückenden Last.
Plötzlich sehnte sie sich nach den Weihnachtsfesten, die sie früher erlebt hatte, bevor Kimberly entführt worden war. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer ihres Vaters. Inzwischen lebte er mit einer Frau und ihren beiden Kindern zusammen. Jasmine hatte sie nur einmal in Mobile, Alabama, getroffen, nicht allzu weit von New Orleans entfernt. Doch als sie sich vorstellte, wie der Anruf ablaufen würde – die steife, förmliche Begrüßung, das hartnäckige unterschwellige Gefühl, dass ihr Vater am liebsten gar nichts von ihr hören würde, nicht einmal zu den Feiertagen –, legte sie wieder auf, bevor es klingelte. Stattdessen ging sie in die Bücherei.
Die öffentliche Bibliothek lag nur eine Meile vom Maison du Soleil entfernt. Es war ruhig hier, zu ruhig. Wie der Anruf bei Rayne Gulley erinnerte die Stille Jasmine daran, dass Weihnachten kurz bevorstand und alle anderen damit beschäftigt waren einzukaufen, Bäume zu schmücken, Plätzchen zu backen und zu feiern. Doch zumindest bedeutete die Einsamkeit, dass niemand sie stören würde.
Sie saß im dritten Stock in der Abteilung für Mikrofilme. Ihre einzige Gesellschaft war der Bibliothekar am Schalter, der über den letzten Ausgaben der Times-Picayune, New Orleans’ größter Tageszeitung, brütete. Jasmine suchte nach Meldungen, die irgendwie hervorstachen oder ihren Erinnerungen über den Mann, der Kimberly entführt hatte, auf die Sprünge helfen könnten. Mr. Cabanis hatte sich zwar nicht daran erinnert, nach dem Fornier-Fall von irgendwelchen Entführungen gehört zu haben – aber das bedeutete nicht, dass es keine gegeben hatte. Der Hurrikan Katrina hatte die Nachrichten so lange beherrscht, dass die Meldung über den Tod eines kleinen Mädchens oder Teenagers leicht untergegangen sein konnte – besonders, wenn es keine Spuren gab oder die Eltern nicht lauthals nach Taten verlangten. Womöglich hatte der bärtige Mann angefangen, nach leichterer Beute Ausschau zu halten, nach Opfern, deren Verschwinden nicht so auffiel. Dann konnte es gut sein, dass er hier war und seinem kranken Verlangen
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