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Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald

Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald

Titel: Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Schreiner
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überraschen.«
    »Harmlos. Nur an Nepomuk Hoelzl dranbleiben und schauen, was er die nächsten Tage Ungewöhnliches macht. Mir ist dieser Mann nicht ganz geheuer.«
    »Aber das ist ein Ganztagsjob. Für Gotteslohn soll ich arbeiten, obwohl ich nicht mal an den Großen Außerirdischen glaube.«
    »Ich habe dich noch nie für Geld arbeiten sehen. Betrachte es als aufregendes Hobby.«
    Baltasar holte das Büchlein aus seinem Schreibtisch, das er von Doktor Knoll erhalten hatte. Ein ganzes Jahr zwischen zwei Buchdeckeln, Termine, Termine, Termine, ergänzt durch Anmerkungen und Diagnosen. Er musste sich anstrengen, die verschnörkelte Schrift zu entziffern, die Tintenflecken, die der Füller hinterlassen hatte, dazwischen Hinweise mit Bleistift, vermutlich von der Sprechstundenhilfe.
    Einzelne Seiten zierten Skizzen. Sie zeigten die vermutete Diagnose in Form von Bildchen, etwa einen Kopf mit Verband, Masern als Punkte in einem Gesicht, eine Strichfigur mit Krücke. Baltasar konnte verstehen, warum der Arzt das Werk seines Vorgängers nicht weggeworfen hatte, auch wenn es zwanzig Jahre alt war – es war irgendwie unterhaltsam.
    Nachdem der genaue Ankunftstag des Mädchens namens Eva unbekannt war, versuchte es Baltasar mit einem Zeitraum von drei Monaten. Er wusste nicht, ob er überhaupt etwas finden würde, aber einen Versuch war es wert.
    Nach dreißig Seiten tränten seine Augen, die Buchstaben verschwammen, die Zeichnungen tanzten. Die immer gleichen Diagnosen, Zahlen und Abkürzungen medizinischer Fachausdrücke. Fast hätte er die Zeile überlesen, doch dann zog ein Eintrag am achtundzwanzigsten des Monats seine Aufmerksamkeit auf sich:
    Fr. Eva H., wohnh. in Ö., keine Krankenka., Berat.gespr., wünscht abrupt.gravi. Abgelehnt. Neuer T.
    Daneben hatte der Arzt eine Figur gezeichnet, eine Frau, deren auffälligstes Merkmal ein dicker Bauch war. War Eva H. die unbekannte Tote oder war es nur eine Namensgleichheit? Das Datum passte. Das »wohnh. in Ö.« hieß wohl wohnhaft in Österreich. Ein weiterer Beleg. Genauso wie »keine Krankenkasse« oder »keine Krankenkarte«. Nun war sich Baltasar fast sicher: Der Eintrag wies auf die Gesuchte, sie hatte tatsächlich einen Arzt aufgesucht. Aber warum hier und nicht in ihrer Heimat in Österreich? Johannes Detterbeck hatte damals nicht bemerkt, dass das Mädchen krank gewesen war, als es vor zwanzig Jahren allein in seinem Gasthaus saß.
    »Neuer T« konnte sich auf eine Behandlung beziehen, eine frische Tetanusimpfung zum Beispiel, auf eine Transfusion, eine Blutübertragung, doch das ergab für ihn keinen rechten Sinn. Möglicherweise ist es viel einfacher, dachte Baltasar, nicht immer nur kompliziert denken. Er probierte mehrere Begriffe, bis ihm die Erleuchtung kam, der Himmel sei gelobt: Es konnte schlicht »Neuer Termin« heißen. Das wäre konsequent nach dem »Abgelehnt«. Eva wollte behandelt werden, aber der Doktor hatte sie abgewiesen und einen weiteren Gesprächstermin vorgeschlagen.
    Baltasar blätterte vor und suchte nach einem zweiten Eintrag für Eva H. Vergeblich. Er hatte schon einen Monat durchgelesen. Keine Eva. Zur Sicherheit arbeitete er sich nochmal rückwärts durch, falls er etwas übersehen haben sollte. Es blieb dabei: keine Eva, auch keine andere Notiz, die dazu passen würde.
    Das Mädchen war nicht mehr in die Praxis gekommen. Konnte sie nicht mehr erscheinen, weil sie zu dieser Zeit bereits unter der Erde lag – erschlagen und schändlich vergraben wie eine tote Katze?
    Er überlegte, was Eva mit » abrupt.gravi« wollte. Es war Latein. Vermutlich hatte der Schreiber einen medizinischen Ausdruck verwendet. Baltasar konnte sich nicht vorstellen, dass die Worte von ihr stammten. Er rief bei Doktor Knoll an, dessen Antwort kam prompt. »abrupt.gravi« stand für abruptio graviditatis . Zu Deutsch: Schwangerschaftsabbruch.
    Baltasar war wie vor den Kopf gestoßen: Die junge Frau war schwanger gewesen und wollte ihr Kind abtreiben lassen? Jetzt ergab auch die Zeichnung am Rand der Seite einen Sinn: Die Figur mit dem dicken Bauch sollte die schwangere Eva darstellen. Deshalb hatte das Mädchen damals im Gasthaus seinen Mantel nicht ausgezogen. Sie wollte verbergen, dass sie in anderen Umständen war. Deshalb hatte Detterbeck sie als korpulent in Erinnerung.
    Abruptio graviditatis – welche Seelennot trieb das Mädchen dazu, eine solche Entscheidung zu treffen, über Leben oder Nicht-Leben des eigenen Kindes? Hatte sie ihre Schwangerschaft

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