Stout, Maria
war.
Das
Grundkonzept des Über-Ichs ist einleuchtend. Oft können wir beobachten, wie
Kinder die Regeln ihrer Eltern verinnerlichen und sogar durchsetzen. (Mutter
runzelt die Stirn und sagt zu ihrer vierjährigen Tochter: "Kein Schreien
im Auto." Einige Minuten später zeigt dieselbe Vierjährige gebieterisch
auf ihre lärmende zweijährige Schwester und schreit: "Kein Schreien im
Auto!") Und die meisten von uns haben als Erwachsene schon die Stimme des
eigenen Über-Ichs gehört. Einige von uns hören sie in der Tat ziemlich oft. Es
ist die Stimme in unserem Kopf, die zu uns sagt: "Du Idiot! Warum hast du
das getan?" oder "Also, wenn du diesen Bericht nicht heute Abend
fertig stellst, wird es dir Leid tun." oder "Du solltest deine
Cholesterinwerte checken lassen." Und in der Geschichte von Joe und Reebok
könnte Joes Entscheidung, das Meeting zu verpassen, sehr wohl von seinem
Über-Ich getroffen worden sein. Zur Veranschaulichung könnten wir spekulieren,
dass Joes haustierfeindlicher Vater ihm, als er vier Jahre alt war, zu sagen
pflegte, "Nein, mein kleiner Joe, wir können keinen Hund anschaffen. Ein
Hund ist eine riesige Verantwortung. Wenn du einen Hund hast, musst du immer
das stehen und liegen lassen, was du gerade tust und dich um ihn kümmern."
Joes Entscheidung als Erwachsener könnte sehr wohl von seinem Über-Ich gelenkt
worden sein, das darauf bestand, diese Anweisung wörtlich zu befolgen.
Etwas
abwegiger könnte Freud selbst sich gefragt haben, ob Joes Über-Ich den gesamten
morgendlichen Ablauf eingefädelt haben könnte, natürlich unbewusst - so sehr in
Eile zu sein und vergessen zu haben, das Hundefutter bereitzustellen -, um so
die Richtigkeit von Vaters Regel zu "beweisen" und Joe dafür zu "bestrafen",
dass er sich ein Haustier angeschafft hatte. Denn nach der Freudschen Theorie
ist das Über-Ich nicht nur eine Stimme; es ist ein Akteur, ein subtiler und
raffinierter Manipulator, der Recht behalten will. Es verfolgt, urteilt und
straft, und zwar weitgehend außerhalb unseres Bewusstseins. Während das
Über-Ich im besten Falle dem Einzelnen dabei helfen kann, in der Gesellschaft
zurechtzukommen, kann es aber auch zum anmaßendsten und vielleicht
destruktivsten Bestandteil seiner Persönlichkeit werden. Ein besonders
barsches, im Kopf eines Menschen hämmerndes Über-Ich kann nach Meinung von
Psychoanalytikern lebenslange Depressionen verursachen oder gar sein
bedauernswertes Opfer in den Selbstmord treiben.
Und so
führte Freud den sehr weltlichen Gedanken ein, dass das Gewissen einiger
Menschen repariert werden müsse und dass die Psychoanalyse das leisten könne.
Außerdem
verbanden Freud und seine Anhänger - und das war noch schockierender - die
endgültige Etablierung des ÜberIchs beim Kind mit der erfolgreichen
Verarbeitung des Ödipuskomplexes. Der Ödipuskomplex (bei Mädchen manchmal
Elektrakomplex genannt) entsteht, wenn das Kind im Alter zwischen drei und
fünf Jahren beginnt zu begreifen, dass es den andersgeschlechtlichen Elternteil
nie ganz besitzen wird. Etwas prosaischer ausgedrückt: Jungen müssen
akzeptieren, dass sie ihre Mutter nicht heiraten können und Mädchen müssen
akzeptieren, dass sie ihren Vater nicht heiraten können. Ödipale Konflikte und
die sich daraus ergebenden, auf den gleichgeschlechtlichen Elternteil
gerichteten Gefühle der Konkurrenz, Furcht und Ablehnung sind laut Freud so
mächtig und bedrohlich für die familiären Bindungen des Kindes, dass sie
gründlich "verdrängt", also vom Bewusstsein abgeschirmt werden
müssen, und diese "Verdrängung" wird durch eine nachdrückliche
Stärkung des jungen ÜberIchs ermöglicht. Sollten danach für den
andersgeschlechtlichen Elternteil sexuelle Gefühle entstehen oder ein Gefühl
der Rivalität zum gleichgeschlechtlichen Elternteil, würden diese Gefühle durch
eine gefürchtete und erbarmungslose Waffe des nunmehr erstarkten Über-Ichs
besiegt werden - durch ein sofortiges, unerträgliches Gefühl der Schuld. Auf
diese Weise erlangt das Über-Ich seine Autonomie und Macht in der Psyche des
Kindes. Es ist ein strenger Zeremonienmeister im Dienste unseres Bedürfnisses,
ein Teil der Gruppe zu bleiben.
Was immer
man auch sonst von solchen theoretischen Überlegungen halten mag, muss man Freud
doch das Verdienst zuschreiben, erkannt zu haben, dass unsere Moral kein
einheitlicher, hermetisch abgeschlossener Kodex ist, sondern sich dynamisch
und eng verbunden mit den lebenswichtigen familiären und
Weitere Kostenlose Bücher