Stout, Maria
unserem moralischen Universum ausgegrenzt"
worden. Die Intervention des Gewissens kommt für ihn nicht mehr zur Anwendung.
Er ist nicht menschlich. Er ist ein Es, ein
Neutrum. Und leider macht diese Transformation vom Menschen zum Es ihn auch
furchterregender.
Bisweilen
scheinen Menschen unsere moralische Ausgrenzung zu verdienen, zum Beispiel
Terroristen. Andere Beispiele des Es sind
Kriegsverbrecher, Kinderschänder und Serienmörder, und in jedem dieser Fälle
könnten - zu Recht oder auch nicht - Gründe dafür angeführt werden (und sind
angeführt worden), dass ein Anspruch auf eine mitfühlende Behandlung verwirkt
worden sei. Aber in den meisten Fällen ist unsere Tendenz, Menschen auf
Nicht-Wesen zu reduzieren, weder begründet noch bewusst, und im Laufe der
Geschichte hat sich unser Hang zur Entmenschlichung nur allzu oft gegen
letztlich Unschuldige gewandt. Die Liste der gesellschaftlichen Gruppen, die
ein Teil der Menschheit zeitweilig auf eine kaum noch menschliche Stufe
degradiert hat, ist ellenlang und enthält ironischerweise Kategorien für fast
jeden von uns: Schwarze, Kommunisten, Kapitalisten, Schwule, Indianer, Juden,
Ausländer, "Hexen", Frauen, Muslime, Christen, die Palästinenser, die
Israelis, die Armen, die Reichen, die Iren, die Engländer, die Amerikaner, die
Singhalesen, Tamilen, Albaner, Kroaten, Serben, Hutus, Tutsis und Iraker, um
nur einige zu nennen.
Und wenn
erst die andere Gruppe aus vielen Neutren ("its") besteht,
ist alles erlaubt - namentlich dann, wenn eine Autoritätsperson die Befehle
erteilt. Das Gewissen wird entbehrlich, denn das Gewissen bindet uns an andere
Wesen und nicht an Neutren. Das
Gewissen existiert weiter, ist vielleicht sogar sehr penibel, aber es wird nur
auf meine Landsleute, meine Freunde und meine Kinder angewendet, und nicht auf
deine. Du bist aus meinem moralischen Universum ausgegrenzt, und nun kann ich
dich ungestraft - oder gar unter dem Beifall der anderen Mitglieder meiner Gruppe
- aus deinem Haus vertreiben oder deine Familie erschießen oder dich lebendig
verbrennen.
Ich sollte
festhalten, dass de facto bei dem Freudenfeuer im Jahr 2002 nichts Schlimmes
passiert ist. Soweit ich weiß, sind diese makabren Gedanken nur mir gekommen.
Die Flammen haben nur Holz verbrannt. Das Feuer war ein beeindruckender Anblick
und brannte dann aus, ganz nach Plan. Lachende Kinder tollten in der
Geborgenheit ihrer Heimatstadt am Strand herum und wurden dann von den
Feuerwehrmännern abgeduscht. Man wünscht sich, dass Menschenansammlungen immer
so friedlich verlaufen könnten.
Des Kaisers neue Kleider
Wenn das
Gewissen in eine tiefe Trance fällt, wenn es bei Akten von Folter, Krieg und
Völkermord schläft, können politische Oberhäupter und andere im Licht der
Öffentlichkeit stehende Persönlichkeiten den Unterschied zwischen einem
allmählichen Wiedererwachen unseres siebten Sinns und einem fortgesetzten,
unmoralischen Albtraum ausmachen. Die Geschichte lehrt uns, dass Einstellungen
und Zielsetzungen der Herrschenden, die die Entbehrungen und Ängste der Gruppe pragmatisch
zu bewältigen suchen, anstatt eine Randgruppe zum Sündenbock zu erklären, uns
dabei helfen können, zu einer realistischeren Wahrnehmung der "Anderen"
zurückzufinden. Nach und nach kann moralische Führung etwas bewirken. Aber die
Geschichte zeigt uns auch, dass ein Herrscher ohne einen siebten Sinn das
kollektive Gewissen der Gruppe noch stärker hypnotisieren und die Katastrophe
potenzieren kann. Durch den Einsatz von auf Furcht basierender Propaganda zur
Verbreitung einer destruktiven Ideologie kann ein solcher Potentat die
Mitglieder einer verängstigten Gesellschaft dazu bringen, die Neutren als das
einzige Hindernis für ein gutes Leben für sich und womöglich gar die gesamte
Menschheit anzusehen; der Konflikt wird so zu einer epischen Schlacht zwischen
Gut und Böse. Nachdem solche Glaubenssätze verbreitet worden sind, kann das
mitleids- und gewissenlose Zermalmen der Neutren mit
beklemmender Leichtigkeit zu einer zwingenden Aufgabe werden.
Das
mannigfache Auftreten dieses zweiten Typs von Herrschern im Laufe der
Geschichte wirft eine lange Reihe verblüffender Fragen auf. Warum toleriert
die menschliche Rasse diese leidvolle Geschichte ein ums andere Mal? Warum
gestatten wir es Herrschern, deren Motive ausschließlich durch Eigennutz oder
psychische Probleme in ihrem Vorleben bestimmt werden, immer wieder,
Verbitterung und politische Krisen zu bewaffneten
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