Sträfliche Neugier
hatte eine Weile unschlüssig
vor dem Eingang ausgeharrt. Plötzlich überfiel sie Angst vor dem Betreten der
fremden Behausung und wollte schon wieder umkehren. Da öffnete sich die Tür und
ein etwa 30jähriger Mann trat heraus. Er war ziemlich groß und etwas hager,
sein voller Mund lugte unter einem mächtigen schwarzen Schnauzbart hervor.
Unter seinem linken Arm trug er eine große, mit einer Kordel verschlossene
Mappe, wie man sie zum Transport von Zeichnungen verwendet.
»Sie sind Franziska Abel, nicht wahr?«, fragte er. »Ich bin
Paul Millert, dachte schon, Sie kämen nicht mehr. Ich muss nun leider zu einem
Seminar, tut mir leid.«
Franziska erklärte ihm, dass sie lange vergeblich nach der
angegebenen Hausnummer gesucht hätte und es dadurch zu ihrer Verspätung
gekommen sei. Paul Millert schaute sie abwägend an, schien einen Augenblick
nachzudenken und meinte dann gut gelaunt: »Ach wissen Sie was, heute lasse ich
das Seminar einfach sausen. Kommen Sie, gehen wir rein!«
In dem geräumigen Atelier mit mehreren großen Dachfenstern
bewunderte Franziska mit erstaunten Augen das vielseitige Talent dieses jungen
Malers. Vor allen Dingen waren es die mit feinen Pinselstrichen ausgeführten
Ölgemälde von Landschaften, die auf Staffeleien aufgespannt waren, aber auch
die Aquarelle von Blumen oder schöner Mädchen, die in schlichten Glasrahmen an
den Wänden aufgereiht hingen. Paul war überglücklich, die Begeisterung dieser
jungen, hübschen Frau über seine künstlerischen Arbeiten zu spüren. Von
Modellstehen und Aktzeichnen war jetzt keine Rede mehr. Wie ihr Paul später
einmal verriet, hätte er es nie zugelassen, sie als bloßes Objekt den Blicken
fremder Männer auszusetzen. Nein, bereits als er sie vor der Tür stehen sah,
wusste er, dass er auf diese Frau sein ganzes Leben gewartet hatte. Und diese
Chance wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen oder gar dadurch
verderben, indem er seine Studienkollegen auf dieses bezaubernde Geschöpf
aufmerksam machte.
Es blieb nicht bei diesem ersten Besuch. So weit es ihre
Arbeit zuließ, nahm Franziska jede Gelegenheit wahr, diesen sympathischen
Künstler zu besuchen, um ihm bei der Arbeit zuzusehen oder mit ihm nur zu
plaudern. Allerdings hatte Paul während der Woche nur wenig Zeit für sie, denn
abends gab er oft Zeichenkurse an der Volkshochschule, um damit sein Atelier
finanzieren zu können. Seine sonstigen persönlichen Ausgaben bestritt er aus
einer kleinen Erbschaft, die ihm seine früh verstorbenen Eltern hinterlassen
hatten.
Umso intensiver erlebten sie ihre gemeinsamen Wochenenden.
Zum ersten Mal seit dem Verschwinden ihres Bruders fühlte sich Franziska wieder
glücklich. Sie hatte nie daran geglaubt, sich einmal verlieben zu können. Auch
Paul befand sich nun in einer Situation, die nach einer raschen Entscheidung
verlangte, denn einem Mädchen wie Franziska, seinem blonden Engel , wie
er sie nannte, würde er gewiss nie mehr begegnen. Schließlich kam es, wie es
kommen musste, und nach einer gemeinsam verbrachten Nacht beschlossen sie zu
heiraten.
Zwei glückliche Monate folgten auf ihre Hochzeit. Das junge
Paar bezog im Elternhaus Julias ein kleines Appartement im Dachgeschoss. Nach
einem zweiwöchigen Urlaub, den sie überwiegend zuhause oder in einem der vielen
Münchener Museen verbrachten, gingen beide wieder ihrer üblichen Tätigkeit
nach. Paul kam meist erst am späten Abend nach Hause, denn die Malkurse
dauerten oft bis 22 Uhr oder länger. An heißen Sommertagen pflegte er vorher
noch ein paar Runden in einem nahen See zu schwimmen, er hatte es mit dem
Fahrrad nicht weit bis dorthin.
Als sich Julia an einem Sommerabend mit der Korrektur von
Prüfungsaufgaben abplagte, läutete das Telefon. Es meldete sich eine Dame von
der Volkshochschule und fragte an, ob der Malkurs heute Abend ausfiele und
warum, denn Paul sei nicht erschienen. Julia zeigte sich überrascht, denn sie
wusste, dass Paul gerade heute seinen Lieblingskurs Porträtzeichnen abhielt, und vermochte der Dame keine Auskunft über Pauls Fernbleiben zu geben.
Aber etwas sonderbar fand sie das doch.
Nach etwa einer Stunde läutete es erneut, diesmal an der
Haustür. Als sie öffnete, begrüßte sie eine junge Polizeibeamtin in Zivil, die
mit einfühlsamen Worten versuchte, sie auf ein tragisches Ereignis
vorzubereiten. Nachdem die Besucherin zunächst nicht so recht mit der Sprache
heraus wollte, erfuhr Julia dann endlich, dass Paul einen Badeunfall
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