Sträfliche Neugier
Südtirol fuhren und später die Region um den Gardasee in dichtem
Nebel liegen sahen, meinte Ludwig: »Was haltet ihr davon, wenn wir
weiterfahren, vielleicht nach Siena oder San Gimignano, also in die Toskana?
Die haben garantiert besseres Wetter. Dort gibt es auch schön gelegene
Landhäuser mit Ferienwohnungen und die Landschaft ringsherum ist einfach
bezaubernd.«
»Prima, Papa«, riefen Tom und Beate fast einstimmig, und
Tom ergänzte: »Einer aus meiner Klasse fährt mit seinen Eltern jedes Jahr nach
San Gimignano.«
»Und was meinst du dazu, Julia?« Ludwig, der den großen Van
steuerte, schaute kurz zu seiner Beifahrerin hinüber.
»Ich kenne Siena, ich war als Kind schon mal mit meinen
Eltern und meinem Bruder dort. Deshalb würde mich San Gimignano mehr
interessieren.«
So fuhren sie weiter in die Toskana. In der Nähe von San
Gimignano mietete Ludwig eine geräumige und komfortabel eingerichtete
Ferienwohnung. Auch Fahrräder konnten sie dort ausleihen und unternahmen
täglich kleinere Radtouren durch die malerische Landschaft. Natürlich besuchten
sie auch San Gimignano mit seiner historischen Altstadt, seinen Kirchen, den
riesigen Geschlechtertürmen und Kunstschätzen.
Ludwig Herzog hatte darauf bestanden, dass auch Julia ein
paar freie Tage haben und sich nicht mit Essenkochen befassen sollte, zumal es
ganz in der Nähe eine Trattoría gab, wo sie die regionale Küche genießen
konnten.
Nach einem erlebnisreichen Tag saßen alle auf der Terrasse
des kleinen, familiär geführten Gasthauses. Sie hatten vorzüglich gespeist und
genossen den lauen Sommerabend sowie den Duft der roten und gelben
Kletterrosen, die sich an der Südmauer des alten Gebäudes empor rankten.
Thomas und Beate waren recht müde und hatten es vorgezogen,
frühzeitiger als sonst zu Bett zu gehen. Ludwig und Julia dagegen wollten die Stimmung
dieses wunderschönen Abends noch bei einem guten Wein ausklingen lassen.
Ludwig erhob sein Glas: »Die Toskana ist berühmt für ihren
Wein, besonders für den Chianti. Das milde Klima und die hiesigen
Bodenverhältnisse lassen die Trauben wunderbar gedeihen. Das Ergebnis finden
wir hier in unseren Gläsern. Komm, stoßen wir auf unseren gemeinsamen Urlaub
an!«
»Ja«, sagte Julia, »auf diesen bezaubernden Sommerabend.«
Als sie in Ludwigs fröhliches und entspanntes Gesicht
blickte, durchzuckte es sie plötzlich wie ein Blitz. Für einen Moment hatte sie
das Gefühl, als schauten sie die dunklen Augen ihres verstorbenen Mannes an.
Wie in einem Film, der in Sekundenschnelle abgespult wurde, erlebte sie
nochmals längst Vergangenes.
Franziska, wie sie sich damals noch nannte, war gerade
zweiundzwanzig Jahre alt und unterrichtete als Hauswirtschaftslehrerin an der Privaten
Hotelfachschule Lukullus in München. An einem Sonntagvormittag besuchte sie
eine Ausstellung von Gemälden junger Kunststudenten in der Akademie der
bildenden Künste . Dort war ihr am Schwarzen Brett ein Anschlag
aufgefallen, der ihr Leben verändern sollte. Mit Interesse las sie das in
kunstvoller Kalligrafie gestaltete Plakat:
Junger Kunstmaler sucht gutaussehendes Modell für einige Stunden wöchentlich bei guter Bezahlung.
Absolute Seriosität garantiert. Tel. 089 - 48 76 23
Da sie sich ein Auto kaufen wollte aber noch nicht genug
verdiente, erschien ihr dieses Angebot als recht verlockend. Noch am gleichen
Abend rief sie die angegebene Nummer an, worauf sich eine wohlklingende
männliche Stimme meldete:
»Kommen Sie doch mal ganz unverbindlich vorbei. Aber Sie
dürfen nicht beleidigt sein, falls ich Ihnen mitteilte, dass Sie nicht der
geeignete Typ sind. In diesem Fall fragen Sie bitte nicht nach dem Grund, denn
den würde ich Ihnen niemals nennen. Wissen Sie, ich bin noch Kunststudent und
absolviere derzeit einen Kurs für Aktzeichnen. Für mich und meine
Studienkollegen suche ich ein geeignetes Aktmodell. Sie dürfen mir glauben,
dass nicht jede junge Frau dafür geeignet ist, auch wenn sie noch so gut
aussieht. Ich heiße übrigens Paul Millert.«
Franziska zögerte nicht lange, zumal der angebotene
Stundenlohn durchaus ihren Erwartungen entsprach. Schon am nächsten Tag fand
sie, allerdings erst nach langem Suchen, die angegebene Adresse in einer
kleinen Gasse in München-Schwabing. Nach einem Aufstieg über durchgetretene
Treppenstufen stand sie etwas atemlos im 5. Stock vor einer Tür mit dem Schild ATELIER – BITTE
OHNE ANKLOPFEN EINTRETEN . Sie war ziemlich aufgeregt und
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