Sträflingskarneval
Mittagsschlaf und alle wären wieder munter gewesen, doch soweit ließ Raoul es gar nicht erst kommen. Er erklärte ihnen, dass er mit den Ratsmitgliedern der Djed telefonisch besprochen hätte, die Gäste aus Irland schnellstmöglich zu ihnen zu bringen. So kehrten sie zum Geländewagen zurück und Raoul fuhr mit ihnen einige Kilometer aus Granada hinaus.
Über eine enge Serpentinstraße erreichten sie eine abgelegene Villa in der Sierra Nevada. Das große Gebäude war umgeben von einer weitläufigen Berglandschaft und felsigen Hängen. Umso einladender war der angelegte Garten mit Rasen, Palmen und Sträuchern. Bereits an der Einfahrt, die zusammen mit einem hohen Zaun elektronisch überwacht wurde, fiel ihnen dabei der unbestreitbare ästhetische Sinn des Hausherrn auf, oder in diesem Fall der Gemeinschaft der Djed . Das zweistöckige Haus war weiß gestrichen und besaß große Panoramafenster, wodurch viel Licht ins Innere gelangte.
„Herzlich willkommen bei den Djed “, sagte Raoul strahlend, als er mit Lawren und den vier Freunden vor der breiten Eingangstür stand. Diese wurde soeben von einem älteren Mann geöffnet, der sie höflich mit einer Handgeste einlud einzutreten, danach aber gleich wieder verschwand.
„Das ist Miguel, unser Hausverwalter.“
„Nicht sehr gesprächig“, meinte Gillean und nahm neugierig die Innenausstattung in Augenschein.
Genau wie auf Omey Island war alles sehr modern und hell eingerichtet. Einige kostbare Antiquitäten, die hauptsächlich aus ägyptischen Skulpturen und eingerahmten Pergamenten an den Wänden bestanden, verliehen dem Gebäude ein mystisches Flair. Ansonsten unterschied sich die Villa kaum von anderen, deren Eigentümer keine Geldsorgen kannten.
„Stimmt, er ist kein großer Redner“, gab Raoul seinem Sohn recht. „Aber vergessen wir Miguel, der Rat ist viel wichtiger.“ Noch während er sprach, legte er vorsichtig eine Hand auf die Schulter seines Sohnes, der es zuließ. „Anschließend würde ich gerne mit dir alleine reden, wenn du einverstanden bist“, ergänzte er lächelnd.
Darauf hatte Gillean nur gewartet und nickte zustimmend. Danach wurden er und seine Begleiter in den hinteren Teil der Villa geführt. Dort angekommen trat die Gruppe in einen großen Raum. Auf den ersten Blick ähnelte er einem ganz normalen Konferenzraum, so wie es ihn in jeder größeren Firma auf der Welt gab, doch der Unterschied lag im Detail verborgen. In der dunklen Holztür waren von oben bis unten Hieroglyphen eingeschnitzt und von der Decke hingen mehrere uralte goldene Öllampen herab, die mit kostbaren Jadesteinen verziert waren. An der Wand, gegenüber einer gewaltigen Fensterfront, wurden weitere, uralte Pergamente hinter Glasrahmen präsentiert, deren hohes Alter man sehr deutlich erkennen konnte. Diese hier unterschieden sich jedoch von jenen, die sie zuvor gesehen hatten. Einige zeigten uralte Skizzen der menschlichen Anatomie, andere wiederum die Planung höchst komplizierter technischer Geräte. Ein Pergament besaß dabei eine beinahe unheimliche Ähnlichkeit mit einer der weltberühmten Skizzen Leonardo da Vincis: das Proportionsschema der menschlichen Gestalt nach Vitruv.
„Was ihr hier seht, sind die ersten Entwürfe da Vincis, quasi die Prototypen, bevor seine ausgearbeiteten Skizzen auf der ganzen Welt bekannt wurden“, ertönte plötzlich hinter ihnen eine Männerstimme mit starkem, spanischem Akzent.
Alle wandten ihre Köpfe zu dieser Stimme um und sahen am Ende eines ovalen Holztisches einen sehr alten Mann sitzen. Er hatte bestenfalls die Achtzig überschritten. Der Fremde hatte unzählige Falten im Gesicht, trug einen feinen, dunklen Anzug und erweckte den Anschein, als wäre er eben erst eingetreten, was aber nicht sein konnte. Niemand hatte ihn zuvor wahrgenommen, nicht einmal Raoul, der sich jetzt in Richtung des Mannes verbeugte und seinen Gästen ein Zeichen gab, dies ebenfalls zu tun.
„Ihr seid also die Ordensbrüder und Ordensschwester aus Irland“, stellte der Mann fest und richtete seinen Blick unverhohlen auf Kimberly, deren Wangen sich leicht rot färbten bei so viel unerwarteter Aufmerksamkeit gegenüber ihrer Person. „Verzeiht mir, ich bin immer noch etwas überrascht über Euren Besuch, sonst hätte ich Raoul zum Flughafen begleitet. Die Nachricht vom Tod meines alten Freundes Colin hat mich schwer getroffen.“ Er machte eine kurze Pause und lud die fünf Besucher an den Tisch ein, was sie gerne annahmen. Dann winkte
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