Sträflingskarneval
zumute, am liebsten würde er vor Wut und Enttäuschung schreien und um sich schlagen. Er liebte Kimberly dafür, dass sie gerade jetzt unterstützend an seiner Seite war. Er beschloss für sich, dass er – sobald sich die Gelegenheit ergab – mit Raoul ein ernstes Gespräch unter vier Augen führen würde. Er wollte Antworten auf seine Fragen, Fragen, die nur sein Vater ihm beantworten konnte.
*
Wenig später, als die Sonne bereits im Osten über die felsigen Bergspitzen der Sierra Nevada gen Zenit wanderte, erreichten sie Granada, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Die 734 Meter über dem Meeresspiegel gelegene Stadt wurde bereits in den Schriften der Phönizier und Iberer 500 vor Christus erwähnt. Im Jahr 711 eroberten die einfallenden Mauren Granada, um unter ihrer Herrschaft die Stadt zu einer blühenden Metropole der Iberischen Halbinsel gedeihen zu lassen. In jener Zeit wurde auch die berühmte maurische Festung Alhambra erbaut, ein bis in die heutige Zeit wahres Wunder der damaligen Bauherren. Doch die Stadt fiel im Januar 1492, nach der Kapitulation des Nasridischen Herrschers Muhammad XII., zurück in spanische Hände; genauer gesagt zurück ins Herrschaftsgebiet der Königin Isabella I. von Kastilien und König Ferdinand von Aragón. Mit diesem bedeutendem Ereignis fand auch die Rückeroberung der Halbinsel für das Christentum ein Ende. Bis heute treffen in Granada verschiedene Kulturen und eine ausgeprägte, gegenseitige Toleranz aufeinander. Die Bevölkerung rund um Granada bildet seitdem ein gutes Beispiel für eine multikulturelle und aufgeschlossene Gesellschaft.
All das erfuhren die irischen Gäste, während Raoul den Geländewagen durch die Straßen der Stadt lenkte, vorbei an den zahlreichen bedeutenden historischen Bauten aus verschiedenen Epochen: Eine skurrile, aber dennoch atmosphärische Mischung aus maurischer Zeit, dem Zeitalter der Gotik und dem der Renaissance. Schließlich bog er in eine schmale Seitenstraße ein und parkte auf einem kleinen Parkplatz vor einem Gebäude, das auf den ersten Blick eine merkwürdige Aura ausstrahlte.
„Wir sind da“, verkündete Raoul stolz und stieg schwungvoll aus dem Pajero aus. „Nur keine falsche Scheu. Wir stehen vor dem Kloster Monasterio de San Jerónimo. Hier wohne ich.“ Amüsiert sah er Gillean und seine Freunde zögerlich aussteigen. Ihnen stand die Verwirrung sprichwörtlich auf der Stirn geschrieben.
Überrascht starrten sie erst ihn an, dann zu dem Seiteneingang hinüber. Die Außenwand war weiß getüncht, dahinter ragte ein hoher Kirchturm in die Höhe. Er bestand aus hellem Stein und besaß kleine Bogenfenster. Nach näherem Umschauen entdeckten sie ein schlichtes, hohes, und breites Holzportal, welches zu beiden Seiten von einer Sandsteinsäule eingefasst wurde. Oberhalb des Portals prangte mittig eine eingemeißelte Figur des Schutzpatrons des Klosters, der seinerseits von filigranen Steinarbeiten gerahmt war.
„Sind hier alle Fenster vergittert?“, fragte Gillean seinen Vater interessiert, als sie von dem Parkplatz in eine kühle und dämmrige Eingangshalle ein traten. Inzwischen war er innerlich ruhiger geworden. Seine Neugier hatte seine anfängliche Wut auf ihn geschmälert. Er wollte wissen, wo und wie sein Vater wohnte.
„Ja, sie stammen aus früheren Zeiten und werden regelmäßig instand gehalten“, entgegnete Raoul und nickte nebenher zwei älteren Mönchen zu, die an der Gruppe vorbei liefen, auf dem Weg nach draußen. Beide trugen Mönchskutten aus schwarzer Baumwolle, die mit einer weißen Kordel um die Hüfte zusammengebunden waren. Darunter lugten nackte Beine und Füße in Sandalen hervor. Am Portal angekommen, zogen sie sich die Kapuzen tief ins Gesicht und verschwanden schweigend.
„Die Mönche reden nicht viel“, erklärte Raoul und gewann damit die Aufmerksamkeit seiner Gäste zurück. „Ich bringe euch erst einmal in meine Räume, dort könnt ihr euch ein wenig ausruhen. Ihr habt bestimmt Hunger und ihr seht auch aus, als hättet ihr nicht viel geschlafen. Ich sage Bruder Petro, er soll etwas zu Essen bringen.“
Es folgte ein einheitliches Nicken.
„Dürfen wir überhaupt hier sein?“, erkundigte sich Kimberly und betrachtete dabei den herrlich gestalteten Mosaikboden der kleinen Eingangshalle.
„Selbstverständlich“, antwortete Raoul lachend und wusste bereits ihre zweite Frage, bevor sie sie stellen konnte. „Ich lebe zwar in einem katholischen Mönchskloster, aber ich
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