Sträflingskarneval
zwiegespalten. Er wusste nicht, was er wirklich fühlen oder wie er darüber denken sollte. Kimberlys eiserne und ablehnende Ansicht über diese mittelalterlichen Methoden half ihm nicht besonders weiter. Natürlich verabscheute er diese ebenfalls, denn sie waren und blieben ungerecht. Außerdem gab es ein weiteres Detail, das einen bitteren Geschmack bei ihm hinterließ, denn es erinnerte ihn an eine Zeit, in der Armut und Ungerechtigkeit noch vorgeherrscht hatten, sowie er es im Geschichtsunterricht einmal lernte. Unmittelbar am äußeren Rand des kleinen Waldes, der sich um das Ordenshaus zog, standen seit Anfang der Bauarbeiten zwei große Holzhütten für die Sträflinge bereit. In einer von ihnen schlief Aidan vermutlich gerade. Mrs. Buckley hatte alle Schüler bei ihrem Eintreffen gewarnt, sie sollten sich von den Sträflingen, deren Wachmännern und den Hütten fernhalten. Das Gleiche galt für die Gefangenen, aber vor allem für die Wachen, die mit ihren Prügelstöcken ohnehin einen recht abschreckenden Eindruck machten.
Plötzlich seufzte Kimberly neben ihm laut und riss ihn aus seinen Gedanken zurück vor den Kamin. Er sah ihren betrübten Gesichtsausdruck, der seinem derzeitigen Gemütszustand ziemlich nahe kam. Doch dann reckte sie die Schultern. „Ich werde Rossalyn schreiben. Sie sollte wissen, wo Aidan ist.“
Für einen kurzen Moment lagen Ryan die Worte „Spinnst du?“ auf der Zunge, doch er biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Unterlippe und lehnte sich mit einem grummelnden „Ja“ zurück in den gemütlichen Sessel. Natürlich stand Rossalyn das Recht zu, zu wissen, wo ihr Sohn sich befand, auch wenn sie nicht mit ihm reden durfte. Aber er fragte sich dennoch, ob es wirklich eine gute Idee war.
*
Die Antwort auf diese Frage erhielt Ryan am nächsten Tag beim Mittagessen im Speisesaal. Kimberly kam zu ihm an den Tisch geschlendert, setzte sich und belud ihren Teller höchst zufrieden mit Kartoffelbrei und Hackbraten. Anschließend zog sie ein gefaltetes Stück Papier aus dem Bund ihres Schulrocks und legte es neben sich. Nervös schielte Ryan herüber, bis seine Freundin ihm zwischen zwei vollen Gabeln ungeduldig bedeutete, er solle die Nachricht endlich lesen.
Sofort erkannte er den Ausdruck einer Email, die Kimberly noch heute Nacht an Rossalyn McGrath geschrieben hatte, denn ihre Nachricht stand unterhalb der Antwort. Etwas unfreiwillig nahm er das Schreiben und las die Zeilen. Zwischendurch glaubte er, er könne seinen eigenen Augen nicht trauen, denn das, was er las, klang teilweise mehr als absurd.
Liebe Kimberly,
ich danke dir für die Neuigkeiten über meinen Sohn. Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet, was ich gerne bei unserem nächsten Wiedersehen in die Tat umsetzen möchte.
Derzeitig quält mich die große Sorge um Aidan. Ich hoffe, dass meine nächsten Worte nicht zu forsch sind, doch meine Angst um Aidan ist nach deiner Nachricht gewachsen. Ich bitte dich, und auch Ryan, um einen großen Gefallen. Wenn es euch möglich ist, könntet und würdet ihr ein Auge auf meinen Sohn haben?
Mit meinem Wunsch verlange ich viel von Ryan, aber er soll auch wissen, dass Ich ein Leben lang in seiner Schuld stehen werde. Ich sehe momentan keine andere Möglichkeit, und Aidan ist noch jung. Teilt mir eure Entscheidung bitte so schnell wie möglich mit.
Hochachtungsvoll
Rossalyn McGrath
P. S. Wenn ihr irgendwelche Dinge benötigt, lasst es mich wissen, ich besorge sie euch gern.
Herzliche Grüße, Kendra O’Neill
Um ganz sicher zu sein, dass er wirklich nicht träumte und den Inhalt richtig verstand, überflog er die Nachricht noch zweimal. Als er ein drittes Mal ansetzen wollte, zwang ihn Kimberly zum Aufstehen und murmelte etwas von Pflanzenkunde im angrenzenden Schulpark und von zu spät kommen. Rasch faltete er den Ausdruck zusammen und steckte ihn in die Hosentasche seiner Schuluniform. Danach stürmten sie mit ein paar Mitschülern aus dem Speisesaal und hinaus ins Freie. Vom Haupteingang wandten sie sich nach rechts und liefen über einen Schotterweg direkt in den kleinen Schulpark, der extra für die Klassen angelegt worden war. Dort gab es auch einen speziellen Kräutergarten mit besonderen Pflanzen für den Unterricht, der vom restlichen Park abgezäunt war.
Diesen Unterricht leitete ein älteres Ordensmitglied. Der alte Mr. Brady hatte sich mit Leib und Seele der Pflanzenkunde verschrieben und forderte diese Einstellung
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