Sträflingskarneval
hatte er das Gefühl, Ryan wirklich vertrauen zu können – grade so, als wären sie schon lange die besten Freunde – und ließ sich von dessen Euphorie anstecken. Kurzerhand erwiderte er die Umarmung und strahlte mit Ryan um die Wette. Von nun an konnte es nur noch bergauf gehen.
„Ihr entschuldigt mich, aber auf mich wartet die Arbeit“, meinte Mrs. Buckley, wandte sich um und schickte sich an, die Krankenstation zu verlassen. Im Türrahmen blieb sie jedoch stehen und sagte über ihre Schulter hinweg: „Erholen Sie sich gut, Aidan. Und Sie, Ryan, vergessen den Unterricht nicht. Sie wollen doch einen guten Abschluss machen.“
Ryan hätte seine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass sie in jenem Moment siegessicher grinste, als ihm siedend heiß einfiel, wen er da gerade umarmte. Sofort sprang er zurück und schielte betreten auf die Bettdecke. „Hab ich es dir nicht gesagt“, sagte er mit leicht geröteten Wangen, um den peinlichen Augenblick zu überspielen. „Sie hat dir geholfen, das ist einfach spitze! Wie hat sie das nur angestellt?“
Aidan antwortete nicht und biss sich verlegen auf die Unterlippe.
„Na ja … ganz egal wie sie es gemacht hat“, fuhr Ryan schnell fort, „ Ich werde sehen, was ich für dich zum Anziehen finde. Darf ich nachher wiederkommen?“ Er hob den Blick und lächelte. Der verwirrende Moment war vorbei.
„Ähm … klar.“ Aidan war noch nicht recht fähig, etwas Sinnvolles zu antworten. „Und … und … danke. Für alles.“
„Dafür nicht“, antwortete Ryan. Er konnte es kaum erwarten, Kimberly von den Neuigkeiten zu erzählen. „Ich muss dann los. Ich bringe später Kim mit, ja?“ Er gab seinem Gegenüber keine Chance mehr zu reagieren, denn er war bereits mit seinem Schulrucksack zur Tür geeilt. „Schlaf ein bisschen … bis später“, rief er und rannte davon.
*
Noch während ihrer ersten Unterrichtsstunde erzählte Ryan seiner Freundin alles. In der Mittagspause schrieben sie gemeinsam eine ausführliche E-Mail an Rossalyn und nachdem auch der Nachmittagsunterricht zu Ende war, besuchten sie Aidan. Erstaunlicherweise verstanden sich alle drei nach einer Aussprache sehr gut miteinander, denn Aidan entschuldigte sich für sein früheres arrogantes und verletzendes Verhalten gegenüber den beiden. Anschließend offenbarte Kimberly, dass sie heimlich in der schuleigenen Bibliothek und sogar im Internet nach dem alten Gesetz des Ordens geforscht hatte. Doch bisher war sie nur auf Sackgassen gestoßen. Selbst nachdem Aidan inzwischen seine Puzzleteile zu dem Rätsel beigesteuert hatte, ergaben die Informationen immer noch kein ganzes Bild. Leicht frustriert vertagten sie weitere Überlegungen auf einen späteren Zeitpunkt.
Am Abend brachte Ryan Aidan die versprochene Kleidung. Er hatte eine ausgewaschene Bluejeans und ein fast neues dunkelblaues Hemd gefunden, beides hatte er von seiner Tante Viona letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt bekommen und nur selten getragen.
Erstaunt über seinen erneuten Besuch und die frische Kleidung, die er ihm mitbrachte, war Aidan fast sprachlos. Aber er hörte Ryan, der von seiner Anfangszeit im Internat und von seiner Familie erzählte, ohnehin lieber zu, als selbst zu reden. Später gab Aidan ein paar kleine Anekdoten von sich preis, bis die Krankenschwester Ryan kurz vor Mitternacht auf sein Zimmer verwies. Sie waren beide gleichermaßen erstaunt darüber, wie gut sie sich unterhalten und wie sehr sie darüber die Zeit vergessen hatten. Es war schon fast unheimlich, wenn sie bedachten, dass sie vor Aidans Verurteilung kaum einen Raum teilen konnten, ohne den anderen zu reizen und ihm Beleidigungen an den Kopf zu werfen.
Die nächsten zwei Wochen vergingen wie im Flug. Immer wenn Ryan und Kimberly Zeit erübrigen konnten – denn der Schulstoff forderte sie inzwischen recht stark – besuchten sie mit der Erlaubnis der Schulleiterin Aidan. Ganz zum Verdruss ihrer restlichen Mitschüler. Egal wo beide auftauchten, wurde hinter ihrem Rücken getuschelt. Niemand konnte und wollte es so richtig verstehen. Das ganze Getuschel war zwar lästig, kümmerte sie aber nicht weiter.
Aidan bekam das nur am Rande zu spüren. Immer wenn einer der Schüler wegen einer kleinen Verletzung in die Krankenstation kam, wurde er abfällig beäugt. Doch mittlerweile war er gegen diese Art von Blicken unempfindlich geworden. Sollten sie nur denken, was sie wollten, er wusste es besser. Zwischenzeitlich heilten Aidans Wunden sehr gut.
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