Strafbataillon 999
schnell, als bereute er seine Lüge: »Ich wollte ihn nicht beunruhigen. Es ist immer noch Zeit, es ihm zu sagen.«
»Bitte …«, sagte sie, schloß die Augen, und die nächsten Worte waren nur ein undeutliches, schwaches Murmeln, aber dann machte sie die Augen wieder auf und sprach sehr deutlich und klar, während ein kleines, glückliches Lächeln über ihr Gesicht huschte:
»Bitte – rufen Sie ihn noch einmal an – sagen Sie ihm – sagen Sie ihm – ich bin sehr glücklich – sehr glücklich …«
»Ja«, sagte er mit Überwindung, »ja, ich werde anrufen. Ich werde es tun, ich werde es ihm sagen.«
Aber sie hörte ihn schon nicht mehr. Sie schlief ein.
Diesmal ging es schneller. Dr. Kukill hatte wieder seinen Gruppenführer aufgeboten, der mit ihm zu der Fernsprechzentrale des Heeres ging. Schon nach anderthalb Stunden hatten sie die Verbindung nach Orscha. Doch hier blieben sie stecken, und erst nach langem Gerede konnten sie erfahren, daß an der Front alles drunter und drüber ging und daß sich der Divisionsstab bereits zum Aufbruch rüstete. Russen seien durchgebrochen, was, zum Teufel, wollten die in Berlin jetzt mit irgendeinem Deutschmann in irgendeinem Nest, das sicher bereits von den Russen überrollt worden war? Bewährungsbataillon 999? Was soll mit ihm sein? Warum, zum Teufel, konnten die in Berlin keine Ruhe geben? Dieses Bewährungsbataillon bestand nicht mehr. Aufgerieben. Aus. Warum viele Gedanken über seinen Verlust verschwenden – es gab noch 'ne Menge andere Bataillone, die nicht mehr bestanden! Man hatte jetzt in Orscha andere Sorgen. Jaja, aufgerieben! Nichts mehr übrig davon, Ende?
Ende!
Aufgerieben also, sagte Dr. Kukill leise vor sich hin, als er den Telefonhörer wieder auflegte. Aufgerieben – also wahrscheinlich tot oder in Gefangenschaft geraten, was soviel wie tot bedeutete. Er wußte nicht, was er darüber denken sollte. Es war klar, daß er dies Julia einstweilen verbergen mußte, bis sie außer Gefahr war. Dann konnte man weitersehen. Gut, er hatte sich alle Mühe gegeben. Er hatte alles getan, was in seiner Macht stand. Er hatte alles in die Wege geleitet, um Deutschmann wieder nach Berlin zu holen. Das war nicht gelogen. Wenn es aber so war … wenn Deutschmann tot war, dann war es nicht seine Schuld. Und … Julia wird es überwinden, sagte er sich. Vielleicht nicht so schnell, vielleicht wird sie noch ein Jahr lang trauern, vielleicht auch zwei – aber es gab keine Wunde, die mit der Zeit nicht heilte. Er mußte ihr Zeit lassen. Er mußte ihr ein guter, achtungsvoller Freund sein und sie behutsam wieder ins Leben führen. Dann – dann würde sie eines Tages erkennen, daß sie sich in ihm getäuscht hatte und dann … dann …
»Kommen Sie, gehen wir«, sagte er zu dem Gruppenführer, der mit ausgestreckten Beinen in glänzend polierten Stiefeln auf einem Stuhl saß.
»Was ist los?« fragte er.
Dr. Kukill zuckte mit den Schultern. »Aufgerieben. Wahrscheinlich.« Er brauchte nichts weiter zu sagen. Der andere hatte ihn verstanden.
Durch Barssdowka rollten russische Panzer.
Von der einen Seite hatten sie die deutschen Stellungen aufgerollt, von der anderen Seite, vom Wald her, strömten die Partisanenverbände Denkows, mit ihm und Tartuchin an der Spitze, in das Dorf.
Stabsarzt Dr. Bergen und Kronenberg waren mit einem Teil der Verwundeten noch rechtzeitig weggekommen. Mit den letzten Fahrzeugen waren sie nach rückwärts gerast, über die Artilleriestellungen hinaus – etwas verwirrt und beruhigt zugleich über nur geringe Anzeichen der Nervosität bei den Artilleristen. Wie oft hatten sie solche panikartigen Erscheinungen schon durchexerziert! Ein russischer Einbruch? Unangenehm – und was weiter? Von rückwärts kamen bereits die ersten, in Eile zusammengerafften Reserven, um zum Gegenstoß anzutreten.
Und als Dr. Bergen, mit seiner Kolonne an den Straßenrand gedrängt, in die grimmigen, unbeweglichen Gesichter der Soldaten eines Sturmbataillons sah, die in ihren Kübelwagen langsam über die zerfahrene Straße in Richtung Front schaukelten, mit Maschinengewehren, Maschinenpistolen und Gewehren zwischen den Knien, abenteuerlich und gefährlich aussehend in ihren weißen Tarnjacken mit weiß gestrichenen Stahlhelmen, da fragte er sich ein bißchen beschämt, ob seine überstürzte Flucht gerechtfertigt war.
Sie war es.
Die Russen kamen zwar nicht weit über Barssdowka hinaus, doch dort und anderswo, besonders aber dort, wo die Partisanen hinkamen,
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