Strafbataillon 999
Verluste. Nehmen Sie Handgranaten mit! Der Sanitäter – Deutschmann – soll mitgehen.«
»So ein Schwein«, sagte Schwanecke wütend. »So ein verdammtes Schwein!« Er kniete in seiner Verwehung und schoß auf zwei zickzacklaufende, kleine, dunkle Gestalten, die im ungewissen Licht zwischen den Büschen gegen den Wald hetzten, verschwanden, wieder auftauchten, aber nur sekundenlang, sich hinwarfen – und schließlich in der Dunkelheit untergingen.
Mischa keuchte hinter dem schnellen, wendigen Tartuchin hin. Das stoßweise, böse Rattern der deutschen Maschinenpistole jagte ihm Angst ein. Er warf sich durch das Gebüsch, riß sich das Gesicht an den harten, gefrorenen Zweigen blutig und lag schweratmend im Schnee.
»Mutter Gottes von Kasan«, keuchte er, »das war der Teufel selbst!«
Der kleine Asiate schwieg. Er riß mit den Zähnen ein Verbandspäckchen auf und umwickelte seine linke Hand. Mischa starrte ihn an.
»Hat er dich erwischt?«
Tartuchin schwieg. In seinen zusammengekniffenen Augen stand brennender Haß. Er verband seine Hand und fühlte nicht den Schmerz, der den ganzen Arm ergriff. Der Haß glühte in ihm wie ein übermächtiges Feuer.
»Ich werde ihn töten!« zischte er endlich leise. »Er ist der einzige, der mich bis jetzt getroffen hat, obwohl ich – ich – es wird nicht eher Friede sein, bis einer von uns tot ist. Er oder ich!«
Dr. Kukill sagte:
»Ich glaube, Sie waren schon lange nicht mehr aus – oder irre ich mich?«
»Nein«, sagte Julia.
»Oh – es wird Ihnen sicher gefallen, ich hoffe, der Abend wird hübsch werden … Kennen Sie den ›bosnischen Keller‹?«
»Nein.«
»Er ist nicht groß, aber recht nett«, plauderte Dr. Kukill, während er seinen Wagen durch den spärlichen Verkehr lenkte. »Ich habe dort einen Tisch bestellt, weil ich dachte, daß Sie kaum Lust hätten, in einem großen, feudalen Lokal zu Abend zu essen, wo es vor Uniformen wimmelt. Ist doch recht so, oder?«
Julia nickte.
»Ich kenne den Besitzer des Lokals ziemlich gut. Wir sind sozusagen befreundet – oder das, was man mit dem Besitzer eines Gasthauses eben sein kann. Er scheint über gute Beziehungen zu verfügen – ein Balkanmensch. Bei ihm gibt es sogar das, was es sonst, wo die ›hohen Herren‹ verkehren, nicht mehr gibt. Natürlich nur für seine Freunde. Sie werden sehen, der Mann ist ein Original.« Die Worte flossen leicht plaudernd von seinen Lippen, gerade so laut, daß man sie durch das Geräusch des Motors hören konnte, ohne sich anzustrengen. Hin und wieder sah er zur Seite und lächelte Julia an. In seiner Brille spiegelten sich die spärlichen blauen Lampen der Straßenbeleuchtung.
Julia saß in die Ecke gedrückt und hörte kaum zu. Seine Worte plätscherten an ihren Ohren vorbei, drangen nur halb in ihr Bewußtsein, wie das Gemurmel eines Baches, neben dem man eine lange Zeit sitzt. In den vergangenen Tagen hatte Kukill sie oft angerufen, manchmal zweimal täglich – und sie war immer ans Telefon gelaufen. Aber nicht seinetwegen. Immer, wenn es scharf und durchdringend durch die Wohnung klingelte, dachte sie: Jetzt, jetzt – und hinter diesem Jetzt verbarg sich die Erwartung an etwas, das kommen mußte, das sicher kommen würde, eine Nachricht von Ernst oder von irgend jemandem, der von Ernst kam. Oder noch mehr. Vielleicht meldete er sich selbst. Sie wußte, daß diese Hoffnung unsinnig und vergeblich war. Aber nichts ist so unsinnig und nichts so vergeblich, als daß der Mensch das letzte Fünkchen Hoffnung verlieren könnte.
Sie lebte in ständiger Erwartung. Irgend etwas mußte geschehen, so konnte es nicht weitergehen, ein erlösendes Wort mußte fallen, mußte gesprochen werden, sonst konnte sie diese andauernde Spannung, in der sie lebte, nicht länger ertragen.
Aber niemand außer Kukill hatte angerufen. Es schien, als hätte es die Menschen, die früher, vor Ernsts Verurteilung, in ihrem Hause ein- und ausgingen, nie gegeben. Freunde … Wenn sie an dieses Wort dachte, dann lief über ihr Gesicht ein kurzes, bitteres Lächeln. Freunde … und sie dachte daran, wie wahr es ist, daß ein Mensch, der ins Unglück geraten war, oder schlimmer noch: der plötzlich auf der Liste der Feinde des allmächtigen Regimes stand, keine Freunde mehr hat. Sie hatte es bislang nicht glauben wollen, daß es so sein könnte; vielleicht weil sie, genauso wie Ernst, bereit war, zu den Menschen, mit denen sie in Freundschaft verbunden war, unter allen Umständen zu halten. Jetzt
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