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Straight White Male: Roman (German Edition)

Straight White Male: Roman (German Edition)

Titel: Straight White Male: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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Genuss dieses Odeurs. Heute Morgen, auf dem Weg von Soho nach Heathrow, hatte er einen Zwischenstopp in der Harley Street eingelegt, um Dr. Beaufort einen Besuch abzustatten. Einem rotgesichtigen Rentner mit aschfarbenem Haar. Der Mann war so dermaßen vom alten Schlag, auf seinem Schreibtisch stand sogar ein Aschenbecher. Er hatte Kennedys Penis abgetastet, ihm eine winzige Injektion zur lokalen Betäubung gegeben und dann mit der Nadel eine Probe der Wucherung entnommen, die, wie der Name implizierte, weiter gewuchert war – und zwar von der Größe einer feinen Erbse zu der einer definitiv gar nicht mehr so feinen Erbse. »Ich würde mir an Ihrer Stelle keine großen Sorgen machen«, hatte Beaufort gesagt. »Höchstwahrscheinlich handelt es sich nur um eine Zyste. Sobald ich die Ergebnisse habe, rufe ich Sie an, und wir vereinbaren einen neuen Termin. Sollte nicht länger als eine Woche dauern.«
    »Palliativpflege« nannten sie das, was hier auf der Station betrieben wurde. Die meisten Menschen verstanden darunter das Lindern der Schmerzen und die Betreuung derjenigen, denen nicht mehr zu helfen war. Kennedy, ein erklärter Fan von Wörterbüchern – ein zerfledderter, roter Chambers befand sich immer in Reichweite –, kannte die andere, weniger gebräuchliche Bedeutung des lateinischen Wortes »palliare«: verhüllen, verbergen. Er spazierte den langen Flur entlang und fragte sich, warum diese Verwendung des Wortes wohl aus der Mode gekommen war, obwohl sie ihm doch ziemlich angemessen erschien. Die dahindämmernden Skelette hinter den Vorhängen, vollgepumpt mit Morphium, um die Familienmitglieder, die sich leise redend um die meisten Betten scharten, vor der grausamen, unabänderlichen Wahrheit zu schützen. Ene mene mek – und du bist weg. Das Licht geht an, das Licht geht aus, keiner kommt hier lebend raus.
    Keiner. Du vögelst Tausende von Frauen und scheffelst Millionen? Fick dich – du stirbst. Du lebst ein Leben der Abstinenz und Barmherzigkeit? Fick dich – du stirbst. Du eroberst die ganze bekannte Welt? Fick dich. Du liegst seit vierzig Jahren auf der Couch, glotzt Fernsehen und stopfst Pizza und Chips in dich rein? Du stirbst. Du hilfst alten Frauen über die Straße? Du stirbst. Du bumst kleine Kinder? Bitte, durch dieselbe Tür, mein Freund. Und so weiter und so fort.
    Einige der Patienten starrten bloß vor sich hin, während ihre Familienangehörigen über sie hinweg miteinander redeten. Wässrige, von scharlachroten Splittern gespickte Augen, die in die Ferne blickten, fraglos darauf harrend, dass die Spitze der Sense am Horizont auftauchte, in banger Erwartung der schwarzen, gesichtslosen Kapuze darunter.
    Tatsächlich hatte sich Kennedy den Schnitter niemals so vorgestellt. Wenn er sich den Tod ausmalte, dann hatte der immer das Gesicht eines fröhlichen, aber gnadenlos effizienten Verwaltungsangestellten. »Schönen guten Tag. Kommen Sie doch bitte hier entlang.«
    »Wirklich? Da muss wohl ein Irrtum vorliegen.«
    »Haha. Der war gut.«
    Zu seiner Rechten bot sich ihm jetzt der grausamste Anblick überhaupt: ein Mann, der zur besten Besuchszeit ganz allein in seinem Bett lag. Vermutlich etwas über siebzig Jahre alt, war er bloß noch ein flach atmender Kadaver. Dieser Kerl, der sicherlich irgendwann einmal jemandem alles bedeutet hatte, erwiderte seinen Blick. Kennedy nickte ihm zu und versuchte sich an einem wohlwollenden Lächeln. Der Mann starrte nur zurück. Und als würde er den Duft des Lebens wittern, drehte sich sein Kopf langsam mit, während Kennedy an ihm vorbeischritt. Oh, du armer Hund, dachte Kennedy, was hast du bloß verbrochen? Wie heftig hatte sich dieser Scheißkerl an der Liebe versündigt? Was hatte er ihr angetan, dass er hier taumelnd am Rand der Klippe lag und ihm nicht einmal ein paar Trauben, eine Flasche klebriger Limonade oder ein plappernder Rentner zur Unterstützung gewährt wurden?
    Kennedy war sich durchaus bewusst, dass er das scheußlichste, grausamste Klischee verkörperte, das es gab: einen alternden Romanautor, der mit seiner eigenen Sterblichkeit haderte. Und was war so viel Selbsterkenntnis im Angesicht des unvermeidlichen Grabes wert? Exakt nichts. Als wenn sich dadurch auch nur das Geringste ändern würde. »Oh, ein Grab? Schon klar, die Wiege schaukelt über einem Abgrund und so weiter und so fort. Ich habe Nabokov gelesen, ich weiß Bescheid. Danke, aber ich komme klar.«
    Man hörte die Menschen wirklich solche Sachen sagen. Immer wieder

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