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Straight White Male: Roman (German Edition)

Straight White Male: Roman (German Edition)

Titel: Straight White Male: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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lich und überzogen wie irgend möglich zu tun. Es auf die für alle um sie herum schlimmste Art und Weise zu Ende zu bringen, indem sie ihnen den größtmöglichen Kummer bescherte.
    Gemeinsam mit ihrer Mutter hatten sie einen Spaziergang auf dem Pier unternommen. Es war ein außergewöhnlich schöner Tag gewesen, keine einzige Wolke hatte das Blau des Himmels gestört. Patrick und Kennedy erklärten es ihrer Mum auf einer Bank mit Blick aufs Meer, im Hintergrund dröhnte die deplatzierte Stimmungsmusik aus der Spielhalle und das Klappern der Automaten. Ihre Mum blickte übers Wasser und hörte sich schweigend alles an. »Nein«, sagte sie anschließend leise, aber nachdrücklich und schüttelte dabei den Kopf, »so hätte Gerry nicht leben wollen.«
    So einfühlsam wie möglich hatte der Arzt vorgeschlagen, das Beatmungsgerät abzustellen und es darauf ankommen zu lassen, dass es ihr nicht gelingen würde, aus eigener Kraft zu atmen. Er hatte ihnen erklärt, dass Gerrys Lunge sich mit Flüssigkeit füllen und sie daran quasi ertrinken würde, ohne wieder das Bewusstsein zu erlangen. Allerdings hatte er sie davor gewarnt, dass dieser Prozess Tage, sogar Wochen oder Monate dauern könnte. Sie willigten ein, unterschrieben die nötigen Formulare. Monate?, hatte Kennedy gedacht, als sie zur Cafeteria gingen, um dem Personal der Intensivstation die Gelegenheit zu geben, die notwendigen Schritte einzuleiten. Dabei wurde ihm klar, dass er sich den Tod seiner kleinen Schwester wünschte – und dass er deswegen keine Scham empfand. Im Leben hatte er Gerry im Stich gelassen. Jetzt würde er das nicht tun. Schlussendlich hatten sie noch nicht einmal ihren Kaffee ausgetrunken, als bereits eine der Schwestern herbeigeeilt kam. »Noch in der Minute, in der wir die Beatmung eingestellt haben, begann sie zu kollabieren.« Es lag an Gerrys Lungen, sie waren regelrecht verdorrt. Ausgetrocknet von zwanzig Jahren des Kiffens und der billigen Zigaretten. Mayfair. Kensitas Club. Berkeley.
    Bei zugezogenen Vorhängen hatten sie sich um ihr Bett versammelt und ihr zu dritt beim Sterben zugesehen. Diese schrecklichen Geräusche, die sie machte, als sie in ihrem eigenen Speichel ertrank. Lautes Pfeifen, rasselndes Atmen – wie das schlimmste Schnarchen, das man je gehört hatte. Mum hatte ihre rechte Hand und Patrick ihre linke gehalten. Kennedy hatte am Fußende gestanden. Die blassblauen Digitalziffern, die ihren Puls und Herzschlag anzeigten, waren allmählich immer weiter gen null gefallen, und das schreckliche, rasselnde Atmen hatte dabei an Lautstärke und Intensität zugenommen. Patrick hatte leise und mit gesenktem Kopf geweint, während ihre Mutter, ebenfalls unter Tränen, auf Gerry einredete. »Oh, mein kleines Mädchen«, sagte sie. »Mein armes kleines Mädchen. Was hast du dir bloß angetan? Mein wunderschönes kleines Mädchen. Ich habe dich im Stich gelassen.« Und immer wieder und wieder sagte sie: »Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.«
    Nach Kennedys Uhr hatte es über zwanzig Minuten gedauert, bis das pfeifende Atmen schließlich verstummte, alle Ziffern rote Nullen waren und Gerry sie endgültig verlassen hatte. Kennedy ging zum Kopfende und küsste seiner kleinen Schwester ein letztes Mal die Stirn. (»Ich mach dich fertig, großer Bruder. Ich sag’s dir, Kennedy, ich prügel dich windelweich.«) Sie war überraschend warm, fast verschwitzt. Er beugte sich zu ihrem Ohr hinunter und flüsterte: »Ich hätte mehr für dich tun können. Mach’s gut, Gerry.«
    Ein paar Minuten später, während seine Mutter und Patrick einander schluchzend in den Armen lagen, hatte sich Kennedy entschuldigt und war zur Toilette gegangen. Ohne Tränen in den Augen hatte er sich aufs Klo gesetzt, sein kleines schwarzes Moleskin-Notizbuch hervorgeholt und alles aufgeschrieben: in welchem Winkel das Licht durch das niedrige, breite Fenster über ihnen auf das Bett gefallen war, die Farbe der Digitalziffern, die genauen Worte seiner Mutter. Letztendlich war das Leben immer noch seine Arbeit.
    Er hatte in der ganzen Zeit nur einmal geweint – als er in ihrer Wohnung war, um ihre Habseligkeiten abzuholen. Es hatte ihn umgehauen, wie kalt es dort war. Obwohl es helllichter Tag gewesen war und das Sonnenlicht durch die Jalousien fiel, war es geradezu eisig. Die Elektrizität schien über eine Art Schlüsselkarte zu funktionieren, die man beim Kiosk um die Ecke aufladen konnte. Gerry war offenbar nicht in der Lage gewesen, Geld

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