Strandglut 27 Short(s) Stories
Gartenzaun. In der Tasche ihrer Kordhosen klackten die Kastanien gegeneinander. „Die sind gut gegen Rheuma“ hatte Opa gesagt. Sie wusste zwar nicht, was Rheuma war, aber sie liebte diese glänzenden Kugeln, mit denen man Vögel erschrecken oder jonglieren konnte, die man ekeligen Petzen ins Kreuz schleudern oder vom Balkon werfen konnte, um Passanten zu erschrecken.
Es war die Stunde der Dämmerung und diese Stunde, in der alle ihre Freundinnen bereits zu Hause sein mussten, gehörte ihr. Ihre dürren, blonden Zöpfe klebten am Hals und aus dem gelben Rollkragen, der oben aus ihrem Anorak schaute, dünstete nasser Hund. Sie lenkte ihre Schritte Richtung Bahndamm, der überwuchert war von Goldruten. Dahinter lag ihr Paradies. Nie und nimmer würde sie ihren Freundinnen davon erzählen. Sie stapfte vorbei an der Galvanisier Anstalt und grinste bei dem Gedanken, was ihre Eltern wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass ihre Tochter diese verbotene Linie täglich überschritt. Denn der Bahndamm war die Grenze zu den Schmuddelkindern, zu der Stadt, in der man nicht wohnte, weil dort nur das „Pack“ hauste. Fröhlich kickte sie das nasse Laub vor sich her. Sie zwang sich durch eine Zaunlücke in einen der Schrebergärten und klopfte dreimal kurz, einmal lang an die Tür der verfallenen Hütte, die überwuchert war mit blattlosen Rosenzweigen, an denen Hagebutten leuchteten.
Die Tür wurde einen Spalt geöffnet.
„Heidi“. Wie er die erste Silbe betonte. So konnte nur er sie betonen. Es klang wie ein Freudenschrei, es war ein Jubilieren, eine Liebkosung.
„Komm, setzt dich, ich habe Kaffee gemacht“, sagte er. Heidi setzte sich auf die blau-weiß gestreifte, an einigen Stellen aufgerissene Matratze. Er schenkte aus der zerbeulten Blechkanne eine braune Brühe ein, gab ein wenig „Milchmädchen“ dazu, so wie sie es mochte, und setzte sich neben sie auf die Matratze. Heidi sog den Duft von Caro-Kaffee ein und fühlte sich geborgen. Über den Rand der abgestoßenen Tasse betrachtete sie ihren Freund in dem flackernden Licht der einzigen Kerze, die den Raum erhellte.
„Hast du Beute gemacht?“, fragte er.
„Mhm.“ Mit weit ausholender Geste griff sie in ihre Anorak Tasche und legte ihre Schätze nacheinander auf den Holzkasten, der als Tisch diente. Da kamen Welthölzer zum Vorschein, Zigaretten, sorgfältig in Butterbrotpapier eingewickelt, Nägel, ein Schraubenzieher, eine Tube Uhu, eine Rolle Bast und eine halbe Tafel Schokolade.
„Nicht schlecht“, meinte er.
Sie sah, wie er gierig auf die Schokolade schielte.
„Alles für dich, bedien‘ dich“, sagte sie.
„Und du?“
Er schüttelte traurig den Kopf. „Macht nix“, sagte sie und streichelte seine dunklen Locken.
„Lass das, das mag ich nicht.“
„Warum nicht, du hast so schöne Locken.“
„Nur Mädchen haben Locken“, sagte er während sie die Kastanien aus ihrer Hosentasche zog.
„Hier, die sind gut gegen Rheuma.“
Er nahm die Kastanien, die im Kerzenschein glänzten wie Seide. Ein Lächeln überzog sein Gesicht und dann nahm er den Schraubenziehen und versuchte ein Loch in eine Kastanie zu bohren.
„Was machst du da?“ fragte sie als er zum zehnten Mal abgerutscht war.
„Warte, du wirst schon sehen.“
Er arbeitete still vor sich hin, während Heidi sich gemütlich auf der Matratze ausstreckte.
„Ich muss nach Hause“, sagte sie, „meine Mutter wird schimpfen.“
„Bleib noch ein paar Minuten, bitte“, sagte er, während er eine Kastanie mit Bast umwickelte.
„Du hast es gut, bei Euch fällt es gar nicht auf, ob einer fehlt“, sagte sie.
„Stimmt.“
Heidi war aufgestanden und zog ihren Anorak zu.
„Ich komme morgen wieder“, sagte sie.
„Fertig“ rief er, sprang auf die Füße und hielt sie am Anorak fest.
„Hier, für dich.“ Er hielt ihr etwas hin, das bei näherem Hinsehen aussah wie ein Mädchen mit zwei Zöpfen.
„Mein Kastanienmädchen“, sagte er und grinste schief.
Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss und verschwand durch die Tür.
Das Kastanienmädchen hielt sie wie eine kostbare Vase unter ihrem Anorak verborgen, während sie jubilierend mitten durch die Goldruten am Bahndamm lief. Es hatte sich Nebel gebildet und sie würde Schimpfe bekommen, aber sie war glücklich. Er hatte sie sein Kastanienmädchen genannt und sie hatte ihn geküsst. Sie gehörten zusammen. Wie sie ihn liebte, wie sie den Herbst liebte, wenn die Besitzer der Schrebergärten längst in ihre warmen Wohnungen
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