Strandglut 27 Short(s) Stories
surprise! »
Sabine drehte sich enttäuscht um. Verdammt, das war der Falsche. Sie schaute auf den sich leerenden Bahnsteig, aber kein großer, schwarzer Mann mit einer Aktentasche war weit und breit zu entdecken. Oder war Blutwurstgesicht gar nicht der Falsche und hatte nur durch Zufall einen anderen Kunden getroffen? Konnte sich nicht zu erkennen geben?
Die Gedanken in Sabines Kopf waren mindestens ebenso schnell wie der TGV, der den Gare de Lyon soeben verlassen hatte. Sabine fand sich allein mit ein paar Hoffnungslosen auf dem Bahnsteig wieder. Wie in Trance ging sie Richtung Ausgang und blieb in einem Gitter mit einem Absatz hängen. „Autsch!“. Sie zog den Absatz heraus, der in zwei Teile gebrochen war. Das gab ihr den Rest und während sie mit einem heilen Absatz zur Sitzbank humpelte, kullerten die ersten Tränen.
‚Sie haben es versprochen, sie haben es doch versprochen’. Mehr konnte sie nicht, mehr wollte sie nicht denken. Eine Million Euro, kleine, gebrauchte Scheine, in einem Koffer am Gare de Lyon. Ihr Geld, oder besser gesagt, das ihrer Mandanten. 38 % Rendite, es wäre sträflich gewesen, diese Möglichkeit nicht zu ergreifen. Sabine öffnete ihre Aktentasche und suchte nach einem Tempotuch. Kein Taschentuch, dafür aber ein nutzloses Handy. Das letzte Gespräch, bevor ihr der Saft ausgegangen war, hatte ihren Mut sinken lassen. Die Staatsanwaltschaft hatte bereits die Akten in ihrer Kanzlei beschlagnahmen lassen. Wenn sie jetzt wenigstens das Geld kriegen würde, dann käme sie immerhin mit einem blauen Auge und einem fetten Gewinn aus der Sache heraus. Das Notariat konnte sie vergessen, es hatte ihr eh nie viel Freude bereitet. Und Peter wartete in Caracas.
Sabine fingerte die letzte Zigarette aus einer Schachtel Marlboro. „Wie gut, dass Mark nichts ahnt“, sagte sie sich, als sie die Zigarette ansteckte. Ihr völlig unpraktischer Ehemann, Professor für Quantenphysik, würde die Polizei durch seine randlose Brille anschauen wie ein Karnickel, das zum ersten Mal eine Schlange sieht. „Für unsere Finanzen ist meine Gattin zuständig“, würde er ihnen sagen und Stein und Bein schwören, dass „seine Gattin“ sich bei einem Klienten in London aufhalte. Armer, weltfremder Mark. Wenn sie nur wüsste, wie sie mit ihm jetzt in Kontakt treten konnte. Er musste ihr Geld überweisen. Sabine befingerte den letzten Francs-Schein in ihrer Tasche.
Sie humpelte mit ihrem gebrochenen Absatz die Treppen hinunter, vorbei an den Hoffnungslosen, lief wie blind durch die verzweigten Gänge des altmodischen Bahnhofs. Die Leuchtschrift des Nobellokals „Le Train Blue“ war noch ausgeschaltet. Sie dachte an den Spätsommerabend, an dem sie sich mit Mark und ihrem fast erwachsenen Sohn Sven hier durch ein fünfgängiges Menü geschlemmt und die prunkvollen Deckengemälde bewundert hatte, bevor sie an die Côte Azur gefahren waren.
Der scharfe Kaffeeduft aus der Snackbar, der sich mit dem Aroma frisch gebackener Croissants zu einer speicheltreibenden Attacke verabredet hatte, erinnerte sie an ihren letzten Francs-Schein und ihren knurrenden Magen. Längst war ihr letztes Essen in der Kanalisation von Paris verschwunden. Als sie an den peinlichen Augenblick dachte, als der Kellner mit einem bedauernden „Äh bäh“ ihre Kreditkarte an den Tisch zurückgebracht hatte, wurde ihr erneut heiß. Sie hatten alle ihre Kreditkarten gesperrt und spätestens nach der gerade eingetroffenen Abrechnung würden die deutschen Behörden sie jetzt in Paris suchen lassen. Nie hätte sie geahnt, dass das so schnell gehen würde.
Sabine hatte sich danach nicht einmal mehr in ihr Hotelzimmer getraut. Dort lag ihr kleiner Koffer mit dem Notdürftigsten, das sie zum Überleben brauchte, vor allem aber mit ihrem Ladegerät für das Handy. Die Polizei würde dort auf sie warten, so viel war sicher. Sabine setzte sich auf die verschnörkelte, gusseiserne Treppe zum „Train Bleu“ und überlegte, ob sie ihren letzten Francs-Schein in Café/Croissant umrubeln sollte. Die Menschen strömten an ihr vorbei, bunt, laut, hektisch, beladen mit Koffern und Taschen, mit Kindern und Tüten, alle mit einem Ziel.
Diese Menschen interessierten sie nicht, sie schaute niemandem ins Gesicht als sie durch die Masse humpelte, auf dem Weg zu den Aufgängen mit den hoffnungslosen Gestalten.
Die Kristallkugel
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