Straße der Diebe
den Fünfzigern lächelte mich an.
»Ein erfreulicher Zufall, ich sammle nämlich Kriminalromane«, fügte er hinzu.
Ich glaubte einen Augenblick, er wolle mich anmachen oder mir den Krimi abkaufen, den ich gerade in der Hand hielt, Position: Anschlag liegend , doch nein, er wollte lediglich wissen, wo ich ihn aufgetrieben hatte. Ich zögerte, es ihm zu sagen, aus vielen Gründen. Wir plauderten fünf Minuten; ich unterhielt mich gern über meine Lieblingsautoren, über Pronzini, McBain, Manchette, Izzo, um die Bilder von dem Leichnam und den umgefallenen Tischen aus dem Café Argana zu vergessen. Der Typ war ganz von den Socken darüber, dass ein junger Marokkaner diese Bücher kannte.
»Eine meiner Leidenschaften«, erklärte ich, »durch sie habe ich Französisch gelernt.«
Jean-François lebte seit ein paar Monaten in Tanger; er leitete die Filiale eines französischen Unternehmens in der Freihandelszone. Die Stadt gefiel ihm: Wenn es darüber hinaus noch einen Buchhändler gäbe, der ihn mit alten Kriminalromanen versorgte, wäre er vollauf zufrieden.
Ich gab ihm die Adresse des Buchhändlers, doch ich sei nicht sicher, ob er geöffnet habe, erklärte ich, sollte das der Fall sein, würde er dort selig werden. Er dankte mir, dann fragte er mich, ob ich mit einem Computer umgehen könne. Natürlich, antwortete ich.
»Und tippst du schnell?«
»Klar.«
»Mit wie viel Fingern? Zweien?«
»Eigentlich mit vier.«
Er sagte, hör mal, ich kann dir vielleicht einen Job anbieten. Mein Unternehmen arbeitet für französische Verlage. Wir digitalisieren einen Teil ihrer alten Titel aus ihrem Katalog. Wir suchen ständig Studenten, die gut Französisch sprechen und Bücher lieben.«
Gestern das Attentat, vorgestern Judit und heute ein Job in der Sonderwirtschaftszone. Mir fiel der erste Satz aus Geschwätz auf dem Nil von Nagib Machfus ein: »April ist der Monat des Staubs und der Lüge.« Der Gedanke, mich aus dem »Haus der Verbreitung des koranischen Gedankenguts« zu verabschieden, war mehr als verführerisch. Ich erklärte Jean-François, dass ich für eine religiöse Buchhandlung arbeitete, aber freie Zeit hätte. Er schien beeindruckt zu sein.
»Wie alt bist du?«
»Fast zwanzig«, antwortete ich.
»Du wirkst älter.«
»Wegen der weißen Haare.«
Seit einigen Monaten hatte ich weiße Strähnen über den Schläfen. Aber wenn ich wirklich alt ausgesehen hätte, hätte er mir die Frage nicht gestellt, es musste in meinem Gesicht noch etwas Kindliches geben, das den Blick und die weißen Schläfen Lügen strafte.
»Komm am Montag zwischen vier und fünf in mein Büro, dann unterhalten wir uns.«
Bevor er ging, gab er mir seine Adresse. Vor mir lag Position: Anschlag liegend . Kriminalromane waren etwas Machtvolles. Ich fragte mich, wie man wohl
ins Französische übersetzen würde. Gott weiß mehr darüber als wir? Oder: Gott allein kennt das Schicksal?
Ich wusste nicht, dass ich nur noch vier Monate hier sein würde; ich wusste nicht, dass ich bald nach Spanien aufbrechen würde, doch ich ahnte die Kraft des Schicksals, die Macht der Verkettung unsichtbarer kausaler Zusammenhänge, die man Schicksal nennt. Als ich bei Anbruch der Nacht ins »Haus der Verbreitung« zurückkehrte, schien es mir, als stünde die Welt in Flammen; Marokko, Tunesien, Libyen, Syrien, Griechenland, ganz Europa brannte; alles ähnelte den Bildern aus Marrakesch, die das Fernsehen als Endlosschleife brachte, ein zerstörtes Café, umgeworfene Stühle, Leichen. Und mitten zwischen allem die unglaubliche Ironie, dass ein Krimiliebhaber mir Arbeit anbot, obwohl er mich noch nicht einmal kannte, nur weil er gesehen hatte, dass ich Manchette las. Und Meryem. Und Judit. Und Bassam, mit seinem Knüppel. Und das Schlimmste, das noch immer bevorstand.
Montagnachmittags war niemand im »Haus der Verbreitung«, und ich war mir jetzt eigentlich sicher, dass sie etwas mit dem Attentat in Marokko zu tun hatten. Man kann sich über mich lustig machen, mich zu einem besonders naiven Menschen erklären, doch stellen Sie sich eine Sekunde vor, Ihr Nachbar im Treppenhaus, Ihr Chef und Ihr bester Freund wären in einen terroristischen Anschlag verwickelt; Sie würden es keinen Moment glauben; Sie würden sich umsehen, hilflos die Arme zum Himmel heben, den Kopf schütteln und sagen, nein, nein, nein, ich kenne diese Leute, sie haben nichts damit zu tun. In meinem Kopf lag eine Welt zwischen dem Verprügeln von Betrunkenen im Viertel und der
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