Straße der Diebe
Durchführung eines Anschlags mit sechzehn Toten in einem Café siebenhundert Kilometer entfernt. Warum Marrakesch? Um ihre Stellungen in Tanger zu schützen? Um die Hochburg des Tourismus in Marokko zu treffen? Woher hatten sie den Sprengstoff? Wusste Bassam Bescheid, vielleicht seit Wochen schon? Ein Anschlag wie dieser lässt sich doch nicht von heute auf morgen vorbereiten, dachte ich. Und Bassam hielt ich für zu aufrichtig, zu direkt, um mir eine so unglaubliche Geschichte längere Zeit zu verheimlichen. Er musste es an dem Abend erfahren haben, als er mit mir darüber gesprochen hatte.
Möglicherweise hatten sie Unbekannte ermordet; fast hätten sie sogar Judit getötet, wer weiß. Sie hatten meinen Lieblingsbuchhändler zusammengeschlagen; sie hatten mir Unterkunft, Essen und Bildung gegeben. Mein Zimmer war zu klein, die Koran-Kommentare, die Grammatiken, die Abhandlungen zur Rhetorik, die Worte des Propheten, seine Lebensbeschreibungen, mein Regal mit den Krimis: Diese herrlichen Bücher versperrten mir den Blick. Wo waren jetzt all die Mitglieder der Gruppe? Mittags rief ich Cheikh Nouredine und Bassam von unserem Telefon aus auf ihren Handys an: keine Antwort. Ich hatte das Gefühl, keiner würde mehr zurückkehren, das Büro sei aufgegeben worden, sie hatten mich, den Arglosen, zurückgelassen, damit ich die Schläge und die Polizei abbekam. Deshalb hatte der Cheikh mir, ohne mit der Wimper zu zucken, fünfhundert Dirham gegeben. Ich würde niemanden wiedersehen. Keinen von ihnen. Sollte ich bei meinen Büchern bleiben, bis die Polizei kam? Nein, das war unmöglich; ich war nun ebenfalls paranoid. Ich hatte so viele Krimis gelesen, in denen der Erzähler merkt, dass er von Gangstern oder von Ordnungshütern reingelegt, benutzt worden ist, dass ich schon sah, wie ich als einziger Vertreter der »Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts« seelenruhig auf die Polizei wartete, um zu guter Letzt anstelle der Bärtigen gefoltert zu werden.
Das Büro von Cheikh Nouredine war nicht abgeschlossen. Einen Augenblick lang dachte ich, dass ich mich da in etwas hineinsteigern würde, dass sie gleich auftauchen, mich beschämen und mich bis ans Ende aller Tage auslachen würden.
Die Kasse der Buchhandlung stand auf dem Tisch, seit Wochen hatte sie keiner geleert, es waren vielleicht zweitausend Dirham darin.
In einem Lederbeutel fand ich noch mehr Scheine, Euros und Dollars, zusammen zehn- oder fünfzehntausend Dirham, ich traute meinen Augen nicht.
Sonst war alles leer, die Aktenordner waren verschwunden, die Verträge, die Bestellbücher, die Register, die Unterlagen zu den Veranstaltungen, Cheikh Nouredines Geschäfte, nichts war mehr da. Sogar sein persönlicher Computer war weg. Nur der Bildschirm war zurückgeblieben.
Ich war allein zwischen Dutzenden, Hunderten von eingeschweißten Büchern.
Ich drehte eine Runde durch das Viertel, um zu sehen, ob ich nicht ein bekanntes Gesicht aus der Gruppe traf; nichts. Ich ging bei Bassam vorbei, einen Katzensprung entfernt von meinen Eltern, ich traf seine Mutter an und fragte sie, ob sie wisse, wo er sei; sie warf einen Blick auf mich, wie er Bettlern mit ansteckenden Krankheiten vorbehalten ist, brummte einen Fluch und schlug die schwere Haustür zu, öffnete sie dann aber wieder, um mir einen schmutzigen Umschlag zu reichen, der an mich adressiert war – in Bassams Schrift. Ich warf einen Blick darauf, das Datum war nicht von heute; offenbar ein alter Brief, der nie eingeworfen worden war, weil er nicht wusste, wohin er ihn hätte schicken sollen. Ohne weitere Erklärung schloss seine Mutter energisch die Tür vor mir.
Um sechzehn Uhr hatte ich den Termin in der Freihandelszone mit Jean-François wegen der neuen Arbeitsstelle; ich wollte mich umziehen, mich so proper wie möglich machen, ich hatte das Gefühl, die Welt sei aus den Fugen geraten. Als ich ins »Haus der Verbreitung« zurückkehrte, glaubte ich, zwei dunkle Gestalten zu sehen, die um unser Gebäude herumschlichen; Polizisten in Zivil, wer weiß. Ich checkte meine Mails, Judit hatte mir eine neue Nachricht geschickt, schrieb, sie würde nun doch wie geplant nach Tanger zurückkommen, allerdings allein; sie hatte nicht genug Geld, um ein neues Flugticket nach Barcelona zu kaufen; sie schrieb, sie würde ein wenig vor dem vorgesehenen Zeitpunkt da sein, übermorgen, wenn sie Elena in den Flieger gesetzt hätte.
Bei dieser Nachricht wurde mir wieder warm ums Herz, auch wenn es mich ein
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