Straße der Diebe
Namen, den man auf uns projiziert und der uns zu etwas macht, ob man mich einen Marokkaner, Mauren, Araber, Immigranten oder bei meinem Vornamen nennt – nennt mich Ismael, zum Beispiel, oder was ihr wollt –, bald würde ich durch einen Teil der Wahrheit zerschmettert werden, und seht mich an, wie ich durch Tanger renne, ahnungslos, ohne zu begreifen, was soeben mit der »Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts« verbrannt ist, wie ich mich an die Hoffnung klammere, die Judit und meine neue Arbeit heißt, wie an die letzten Schiffe auf dem Strand. Manchmal habe ich das Gefühl, ich sei wieder bei den Schlichen und Gedanken des Mannes, der ich damals war, aber das ist bestimmt eine Illusion; dieser junge Mann, der sich zwei schwarze Hemden, zwei Jeans, T-Shirts und einen Koffer kauft, ist eine Imitation, wie die Kleidungsstücke, die er erwirbt; ich dachte, dass die Gewalt, die mich umgab, mich nicht berühren würde, dass sie nichts mit mir zu tun hatte, dass sie nicht auf mich einwirken würde, nicht mehr als die in Tripolis, Kairo oder Damaskus. In meiner Verblendung dachte ich nur noch an die Ankunft Judits, an diese allzu sentimentalen Verse von Nizar Qabbani, die wir am Gymnasium abschrieben, damit sie den Mädchen ans Herz gingen, denen wir geheime Botschaften zusteckten, und die ich schon für Meryem rezitiert hatte,
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als wir die Meerenge betrachteten, ohne es zu wagen, uns an der Hand zu fassen, und vor allem die darauffolgenden Verse
das Umherirren zwischen den Stationen des Wahnsinns – Judits Augen waren erst recht die letzten auslaufenden Schiffe, wie jener Dichter für die Damenwelt es ausdrückte. Ich erinnere mich, dass Meryem beunruhigt war; sie fürchtete sich vor unserer Beziehung, sie hatte Angst vor den Konsequenzen, Angst vor dem, wozu ich sie verleiten konnte; sie wusste nicht, wie sie mit dieser Jugendliebe umgehen sollte, sie zögerte, sich ihrer Mutter anzuvertrauen, war diese denn nicht selbst mit einem Cousin ersten Grades verheiratet, und ich erinnere mich, dass Meryem eines Tages, als ich Bassam abgehängt hatte, um sie weit außerhalb unseres Stadtviertels zu treffen, ihre Furcht äußerte, ich würde sie verlassen, um zu emigrieren, worauf ich versuchte, sie mit Versen von Kabbani zu beruhigen, und wenn es so etwas wie Wahrheit gibt, dann habe ich mich in Wahrheit nicht die Bohne um Meryem selbst gekümmert, ich meine, ich kümmerte mich sehr viel weniger um sie als um die Befriedigung meines Begehrens, meiner Lust, darum, wie es mir gelingen könnte, sie auszuziehen, mit ihr zu schmusen, und als ich nach der Lektüre ihres letzten Briefs, der in dem alten Umschlag steckte, den mir Bassams Mutter ausgehändigt hatte, endlich begriff, dass ich für ihren Tod in jenem abgeschiedenen Dorf im Rif verantwortlich war, für ihre Blutungen nach einer heimlich und von Bauern durchgeführten Abtreibung, weil ich nicht auf ihre Verzweiflung reagiert hatte, so wenig wie auf die ihrer Mutter, die einige Wochen nach ihr vor Trauer starb in diesem Paradies von einem modernen Marokko, in dem theoretisch keine Frau verblutet oder Selbstmord begeht oder unter den Schlägen eines Mannes leidet, weil Gott, die Familie und die Traditionen die Frauen beschützen und weil ihnen niemand etwas anhaben kann, wenn sie anständig sind, wenn sie nur anständig bleiben, wie Cheikh Nouredine so trefflich formulierte, der die Wahrheit kannte, wie das ganze Stadtviertel Bescheid wusste, angefangen bei Bassam; als mir klarwurde, dass ich vor dieser Realität nicht davonlaufen konnte, weil sie ebenso schmutzig und handfest war wie die Zahl auf einer Banknote, ebenso präzise und real wie die aus einer Safranblüte trinkende Biene auf der neuen Zehn-Centimes-Münze, die ich mit jedem verkauften Buch herausgab, als der Tod, ebenso unwiderruflich und unwandelbar wie diese Münzen, an mein Ohr drang, um mir zu sagen, oh Junge, du hast eine Stufe verpasst, jetzt lebst du schon achtzehn Monate, ohne etwas von mir zu wissen, da muss die Welt, meine Welt, schon völlig zerstört gewesen sein, sonst hätte mich diese Explosion noch weiter zugrunde gerichtet; Judit musste schon in mein Leben getreten sein, damit ich nach der ersten Verblüffung nicht in Tränen erstickte: Das alles bestätigte eine Eingebung; natürlich wusste auch ich, wusste mein Körper, wussten meine Träume um Meryem, auch wenn ich in jenem Augenblick, als sie am Rand des Rif starb, gerade in einem Kommissariat in Casa verprügelt wurde
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