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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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fragte mich, ob ich ihn, wenn er wirklich am Attentat von Marrakesch beteiligt war, jemals wiedersehen würde.
    Die Schilder der Bars zwinkerten mir zu, die männlichen Gäste saßen auf Stühlen und genossen den Frühling; sie sahen aus wie Schmuggler. Nirgendwo hätte ich so weit von zu Hause fort sein können, nicht einmal in Barcelona, Paris oder New York; so weit entfernt von den Vierteln meiner Kindheit, so weit von dieser Kindheit entfernt, der ich kaum entwachsen war und an die mich die abschüssigen Gässchen erinnerten, weil sie so ganz anders waren, strahlten diese Straßen in der gefährlichen Dunkelheit des Abends etwas Verbotenes aus. Ich fragte mich, ob ich es je wagen würde, eine dieser Spelunken mit den roten Lichtern zu betreten, in denen es nach Zigaretten, Lust und Verlassenheit roch, ob ich für diese Etablissements jemals alt genug sein würde. Jetzt hatte ich ja ein wenig Geld und große Lust, einen Schluck zu trinken, vielleicht sogar mit jemandem zu sprechen. Das Beste am Alkohol war das Bild, das er von mir schuf, das eines harten, erwachsenen Typen, der weder die Wut seiner Mutter noch die Wut Gottes fürchtet, das einer Persönlichkeit wie die, denen ich gerne ähnlich gewesen wäre, den Montales, den namenlosen Detektiven, den Marlowes, den Privatdetektiven und den Polizisten aus den Büchern der Série Noire . Warum klammern wir uns an diese Bilder, die uns hervorbringen, an diese Beispiele, die uns formen und dadurch ruinieren können, dass sie uns entwerfen, die die Identität immer im Fluss, das Wesen auf ewig im Entstehen halten? Meine Einsamkeit muss an diesem Abend so groß gewesen sein, dass ich in eine winzige Bar namens El Pirata ging, deren schmutzig braunes Schild schon die ruhmreichen Zeiten erlebt haben musste, als Tanger internationale Zone gewesen war, und die Wirtin ebenfalls, eine Dame mit zerzaustem, platinblond gefärbtem Haar, die mich beobachtete und sich gewiss fragte, ob ich alt genug war, um Zutritt zu haben. Ich grüßte, ich setzte mich an den Tresen auf einen Hocker, ich bestellte ein Bier. Die Wirtin sah mich grollend an, aber sie bediente mich. Ich fragte mich, was sie sich vorstellte, warum ein junger Proll wie ich mutterseelenallein hier strandete; vielleicht dachte sie sich überhaupt nichts. Knapp fünf Minuten später kam ein Mädchen hinter einem Vorhang hervor, sie war gertenschlank, mit knochigen Beinen in schwarzen Feinstrumpfhosen und mit trotz der Schminke blassen Wangen, sie hievte sich auf einen Barhocker neben mir, ich hatte diese Spelunke betreten, jetzt musste ich damit klarkommen; vielleicht aber war ich auch genau deswegen gekommen, um mit jemandem zu sprechen, einer Animierdame oder einer Nutte; anders als die Helden in meinen Romanen habe ich ein wenig schamhaft die Augen abgewandt, sie hieß Zahra, sagte sie jedenfalls; sie hatte Narben im Gesicht, ganz schmale Lippen, sie roch nach Jasmin, und unter dem Parfum verströmten ihre Kleider den Zedernduft des Salons, in den ich mich zehn Minuten später an der Hand führen ließ, ein abgewetztes, grünliches Sofa glänzte unter einer heruntergedimmten Halogenlampe, Zahra setzte sich und knöpfte ihre Bluse auf, sie trug einen weißen Büstenhalter, dessen Spitzen über ihren winzigen Brüsten auseinanderklafften und ihre sehr dunklen Brustwarzen enthüllten, sie sagte, gib mir zweihundert Dirham, in meiner Tasche zu kramen ermöglichte mir, sie keinen Augenblick anzusehen, ich streckte ihr das Geld hin, sie legte es unter ein Kissen des Divans, sie spreizte die Beine und hob ihren Rock, um mir ihre rasierte, tief dunkle Scham zu zeigen, so dunkel wie der Saum der Strümpfe, der ihre knochigen Schenkel umschloss, ich war hin- und hergerissen zwischen Scham und Lust, sie bedeutete mir, näher zu kommen, ich rührte mich nicht, sie murmelte, komm, hab keine Angst, sie fasste meine Hand, um sie auf ihren Busen zu pressen, während sie mich im Schritt streichelte, ihr Atem stieg an meinem Bauch auf, sie begann, an meinem Gürtel herumzufingern, ich wich einen Schritt zurück und stieß sie von mir; sie sah mich mit einem merkwürdigen Ausdruck an, schließlich war die Scham stärker, und ich ging hinaus. Die Dame hinter dem Tresen höhnte »schon?«, ich drehte mich nicht einmal um.
    Die Straße war menschenleer, ich war ein wenig desorientiert, mein Herz pochte. Verdammter Tag. Beim Rückweg in meine Pension dachte ich kurz an Meryem, dann an Judit.
    Morgen würde alles anders aussehen.
    Ich

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