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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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oder auf einem Markt um einen Apfel bettelte – und dieses Wissen machte meine Albträume noch schmerzlicher, noch deutlicher, noch unerträglicher; mein Bewusstsein, noch verwirrter und ihrer immer unsicherer, wurde geplagt von Gewissensbissen und dem entsetzlichen Gefühl, über das ich qualvolle Tränen der Scham vergießen konnte, dass ich monatelang im Traum mit einer Toten geschlafen hatte, mit Meryem, die der Sarg verschlungen hatte, während ich sie im Wechsel der Jahreszeiten quietschlebendig vor mir sah; sie hatte mich noch begleitet, als sie schon nicht mehr war, und das war so geheimnisvoll, so unbegreiflich für meine noch junge Seele, dass ich darin einen widerlichen Verrat erblickte, eine Gemeinheit, die noch größer war als meine Verantwortung für ihren Tod, dass sich mein Hass gegen Bassam kehrte, gegen meine Familie, gegen alle, die mich daran gehindert hatten, um Meryem zu weinen, und die mich gezwungen hatten, sie tot zu begehren – als würde man vorsichtig das Leichentuch wegziehen, um ihre Brüste zu betrachten. Sie lag auf dem Marmortisch, und ich hatte von ihrem kalten Bauch und ihrer kalten Möse geträumt. Da war sie, die Scham, dort, in dieser Zeitverschiebung; die Zeit ist eine Leichenwärterin, eine weiß gekleidete Frau, die Kinderleichen wäscht.
    Mit gebeugtem Rücken kaufte ich Hemden, eine Katastrophe vorausahnend, ohne zu wissen, dass sie bereits stattgefunden hatte. Ich machte den Brand, die Ankunft von Judit, das Attentat und Bassams Verschwinden für meine Hektik verantwortlich und spürte nicht, dass das Schlimmste bereits eingetreten war; ich zögerte lange beim Kauf eines Pyjamas, da ich hoffte, Judit würde mich darin sehen; flüchtig, aber dennoch ein wenig betrübt, hatte ich, ohne zu wissen, dass sie nicht mehr lebte, an die einzige Frau gedacht, mit der ich zuvor nackt zusammen war.
    Es war einer meiner längsten Abende.
    Einsamkeit und Warten.
    Ich surfte im Netz auf der Suche nach Nachrichten, Nachrichten von irgendjemandem, von Bassam, von Cheikh Nouredine, von Judit, aus Libyen, aus Syrien. Die Flammen schlugen höher als je zuvor. Ich ging auf eine Runde hinaus; die Nacht war mild, zahllose Menschen waren in der Stadt, im Frühling konnte Tanger verführerisch und gefährlich sein. Alles dort wandte sich gegen mich; der Brandgeruch hing mir in den Nasenflügeln und überdeckte den Meeresduft. Die jungen Leute, die zu dritt, zu viert durch die Stadt gingen, wirkten fiebrig, ließen die Schultern spielen; an einer Straßenbiegung sah ich einen Kerl in meinem Alter, der wie verrückt auf einen als Kübelpflanze gezogenen Baum einschlug, ihn ohne ersichtlichen Grund unter Beschimpfungen umwarf, bevor er selbst vom Besitzer eines Geschäfts, der wie ein Blitz aus seinem Laden gestürmt kam, mit Faustschlägen traktiert wurde – Blut spritzte auf sein weißes T-Shirt, er sah verdutzt aus, hielt eine Hand vors Gesicht und lief dann laut schreiend davon. Ich erinnere mich, dass es ein Orangen- oder Zitronenbaum war, er hatte kleine weiße Blüten, der Ladeninhaber richtete den Baum im Kübel wieder auf und streichelte ihn dabei wie eine Frau oder ein Kind, ich glaube, er sprach sogar mit ihm.
    Ich war nur wenige Schritte von der französischen Buchhandlung entfernt, ich ging hinein; ich studierte ein wenig die Regale, diese seriösen Bücher waren einschüchternd, teuer und einschüchternd, man zögerte, sie aufzuschlagen, aus Angst, man könnte die cremefarbenen Einbände beschmutzen, die Bindung beschädigen. Es gab eine Abteilung mit Literatur aus Tanger, und all die Autoren, die Judit erwähnt hatte, standen da: Bowles, Burroughs, Choukri natürlich, aber auch ein Spanier namens Ángel Vázquez, der einen Roman mit dem Titel Das Hundeleben der Juanita Narboni geschrieben hatte – ich dagegen suchte in Büchern eher das Vergessen, ich wollte mein Hundeleben in Tanger hinter mir lassen; ich fand das Regal »Kriminalromane«, dort standen in erster Linie dicke Schwarten, deren Format mir gemessen an meinen alten, in Rauch aufgegangenen Série-Noire -Titeln riesig vorkam, unverhältnismäßig groß, sie waren ebenso einschüchternd wie die ernste Literatur. Ich verließ die Buchhandlung etwas traurig darüber, keinen Begleiter, kein unbekanntes Buch gefunden zu haben, das in der Lage gewesen wäre, den Lauf der Dinge zu ändern, die Welt wieder in Ordnung zu bringen; ich fühlte mich winzig angesichts der Hochliteratur. Ich ging zum Meer hinunter, dachte an Bassam,

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