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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Série Noire , die sich ebenfalls in Rauch auflösten, die Krimis von Manchette, Pronzini, McBain, Izzo und alle meine guten Hemden, meine großartigen Schuhe, meine Pflegemittel; das Wachs brannte sicher gut, das Haarwasser dürfte alles noch mehr angefacht haben, und bald würden, sollte es den Feuerwehrleuten nicht gelingen, das Feuer unter Kontrolle zu bekommen, die Gasflaschen in der Küche und im Badezimmer explodieren und endgültig alles in die Luft jagen, was von Cheikh Nouredines Einrichtung übrig war.
    Die Nachbarn waren da, ich erkannte sie; einer war im Morgenmantel, er hatte seiner Frau, die vermutlich spärlich bekleidet war, eine helle, silberne Lebensrettungsdecke über die Schultern geworfen; manche waren schweigsam und zerknirscht, andere dagegen plärrten und gestikulierten wild. Die Feuerwehrleute schienen Schwierigkeiten zu haben, der in Flammen aufgegangenen Literatur Herr zu werden.
    Nach drei Minuten morbider und verdutzter Betrachtung packte mich plötzlich die Angst; ich rannte den Hügel hinunter in Richtung des Stadtzentrums von Tanger. Das ganze Viertel wusste, dass ich der Buchhändler der »Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts« war. Zweifellos würde die Polizei nach mir suchen, besonders wenn die Gruppe, wie ich mir einbildete, etwas oder auch viel mit dem Attentat von Marrakesch zu tun hatte. Ich wusste nicht, wohin. Meine einzigen Besitztümer: eine Umhängetasche, die einen Laptop, Geld und ein Exemplar von Choukris Nacktes Brot barg, das Judit mir geschenkt und das ich als Buslektüre eingesteckt hatte.
    Wenigstens musste ich mich nicht mehr um meine Kartons kümmern, jedes Unglück ist zu irgendetwas gut. Wenn man auf Reisen geht, sagt der Prophet, muss man seine Sachen in Ordnung bringen, als ob man sterben würde. Ich hatte den Buchhändler noch einmal gesehen; die »Verbreitung des koranischen Gedankenguts« brannte und mit ihr mein ganzer Besitz; blieben nur noch meine Eltern. Seit einigen Tagen und trotz der kleinen Auseinandersetzung mit meinem Bruder hatte ich große Lust, meine Mutter wiederzusehen. Heute nicht. Heute habe ich nicht die Kraft. Mein Adrenalinpegel sank nach und nach, ich schlief im Bus ein, der mich ins Zentrum brachte. Plötzlich war ich erschöpft. Es gelang mir nicht, einen Gedanken zu fassen. Wer oder was den Brand verursacht hatte, war mir völlig gleichgültig. Ein wenig verstört stieg ich an der Ecke zum Grand Socco aus. Es war ein merkwürdiger Tag. Jetzt musste ich einen Platz zum Schlafen finden; ich zögerte, mir ein Zimmer im selben Hotel wie Judit zu nehmen, es wäre vielleicht ein wenig aufdringlich, wenn sie mich bei ihrer Ankunft in Tanger in der Bude nebenan treffen würde. Außerdem wusste ich nicht, ob sie im selben Hotel übernachten würde, es war wahrscheinlich, aber nicht sicher. Ich entschied mich für eine andere Pension, nicht weit entfernt, ein wenig tiefer Richtung Hafen gelegen; der Wirt sah mich an, als hätte ich Lepra, jung, Marokkaner und ohne Koffer; er verlangte, dass ich drei Nächte im Voraus bezahlte, und schärfte mir zehnmal ein, dass seine Absteige ein respektables Haus sei.
    Die Bude war nicht schlecht, mit einem kleinen schmiedeeisernen Balkon, einem schönen Blick auf den Hafen, die Dächer der Altstadt und vor allem mit Wi-Fi. Ich suchte Nachrichten über den Brand im Internet, es schien kein Ereignis von besonderer Bedeutung zu sein, im Augenblick sprach niemand davon.
    Ich sandte Judit eine Mail, dann ging ich los, um ein paar Kleider und etwas zu essen zu kaufen.
    Ich war bereit für die Abreise. Seit fast zwei Jahren hatte ich keine Familie mehr, seit zwei Tagen war ich ohne Freunde, seit zwei Stunden ohne Koffer. Das Unbewusste existiert nicht; es gibt nur bruchstückhafte Information, Erinnerungsfetzen, die nicht wichtig genug sind, um behandelt zu werden, Schnipsel wie früher jene Lochkartenbänder, mit denen man Computer speiste; meine Erinnerungen sind diese zerschnittenen und in die Luft geworfenen Schnipsel, durcheinandergebracht und geflickt, und ich ahnte nicht, dass sie bald wieder Stück für Stück zu einem neuen Sinn zusammenfinden würden. Das Leben ist eine Maschine, die das Dasein rodet; von Kindheit an plündert es uns aus, um uns wieder zu bevölkern, indem es uns in ein Bad von Kontakten, Stimmen, Botschaften taucht, die uns endlos verändern, wir sind in Bewegung; mit einem Schnappschuss bekommt man nur ein leeres Porträt, Namen, einen einzigen und dennoch vieldeutigen

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