Straße der Diebe
Granaten, das Leben in den Schützengräben, die in ihrem Zynismus entsetzlichen militärischen Entscheidungen. Ich rekonstruierte mit den Dokumenten, die wir digitalisierten, die Schlacht von Belkacem und viele andere: Marschtagebuch und Bericht der Einsätze des 3. Algerischen Schützenregiments, November 1914. 5. November 14: Um 1 Uhr deutscher Angriff auf die am weitesten vorgerückten Abteilungen an der Front. Der Angriff wurde durch unser Geschützfeuer aufgehalten. Um 6 Uhr heftiger Angriff der Deutschen auf der ganzen Front des 2. Bataillons. Dieses hat nahezu alle seine Patronen verschossen, es zieht sich zurück, aber setzt sich entlang der von ihm am 3. besetzten Straße in den ehemaligen Schützengräben fest. Das 3. Bataillon besetzt die Verbindungsgräben gen Norden. Die 12. Kompanie rückt zur Verstärkung aus, kann aber den Rückzug nicht vollständig aufhalten. Erbitterte Schlacht den ganzen Tag. Die Truppenverstärkung, die ihr geschickt wird, kommt zu spät: Der Feind hat den Schwachpunkt erkannt und mit weit überlegener Streitmacht angegriffen. Doch die Deutschen konnten den Kanal der Yser nicht überschreiten. 6. November 14: Um 5 Uhr heftiger Schusswechsel auf der ganzen Linie, begleitet von heftigem Kanonenfeuer. Keine Truppenbewegungen. Drei durch Längsbeschuss Gefallene in der 9. Kompanie , unter ihnen Belkacem, der das Ende des Kriegs nicht erleben sollte, nicht mehr nach Constantine zurückkehrte.
Ich erhielt eine zweite Mail von Bassam, jetzt war ich absolut sicher, dass es sich um ihn handelte:
Ramadan karim, Lakhdar khouya! Wir leiden hier, halten uns aber gut .
Die Mail kam von einer ebenso fremden, aber anderen Mailadresse, von einem Robert Smith oder so.
Nach wie vor rätselhaft.
Um auf andere Gedanken zu kommen, ging ich am späten Abend manchmal schwimmen an einen der Strände auf der Seite des Flughafens; der Atlantik war kalt und aufgewühlt, es war angenehm, ich dachte intensiv an Judit und träumte, sie käme mich unangekündigt besuchen, oder davon, dass ich zu ihr reiste. Sie war mit ihren Eltern irgendwo in Spanien im Urlaub und schrieb nicht viel, nur ab und zu eine kurze Nachricht von ihrem Handy aus. Ich hatte Angst, dass sie mich verlassen könnte, dass sie meiner überdrüssig würde oder jemand anderem begegnete.
Ich musste weg. Ich hatte Tanger satt.
Ich hatte beschlossen, mit Monsieur Bourrelier darüber zu sprechen, vielleicht würde er einen Einfall haben – unter Krimifreunden sollte man sich schließlich helfen. Ich fragte ihn, ob er mir nicht zufällig eine Arbeit in seinem Unternehmen in Frankreich beschaffen könne. Er riss die Augen auf: in Frankreich! Aber deshalb sind wir doch gerade hier, weil es hier billiger ist, und nicht, um Arbeitskräfte nach Frankreich zu vermitteln! Außerdem, ist deine Freundin nicht in Spanien? (Er hatte wieder begonnen, mich zu duzen, wenn wir allein waren.) Ich bejahte und sagte, dass ich nicht allzu gut Spanisch sprach, und auf alle Fälle könne man mit einem Schengen-Visum überall hingehen.
»Pech gehabt«, sagte er, »wenn ihr in Marokko eine Revolution gemacht hättet, hättet ihr zu Tausenden in Ceuta oder Tarifa anlanden können wie die Tunesier in Lampedusa. Dann hätte euch Zapatero mit Papieren ausgestattet und euch weiter nach Norden geschickt, als Geschenk für Sarkozy, wie Berlusconi … Schade …«
Das fand er echt witzig, der Dreckskerl.
»Das wäre in der Tat eine gute Lösung gewesen. Aber mit der Revolution wird es hier nichts mehr. Die Verfassungsreform ist durch, und es gibt bald Wahlen für eine neue Regierung.«
»Und das freut dich?«
»Keine Ahnung. Ich will nichts weiter als die Freiheit zu reisen, Geld zu verdienen, ungestört mit meiner Freundin herumzulaufen, zu vögeln, wenn ich Lust dazu habe, zu beten, wenn ich Lust dazu habe, zu sündigen, wenn ich Lust dazu haben, und Kriminalromane zu lesen, wenn mir danach ist, ohne dass irgendjemand etwas dagegen einzuwenden hat, es sei denn Gott selbst. Und das, das wird sich nicht so schnell ändern«, sagte ich.
Er sah mich aufrichtig an; plötzlich hatte ich das Gefühl, dass er mich ernst nahm.
»Ja, was das angeht, ist es noch ein weiter Weg.«
»Alle Jungen sind wie ich«, fügte ich hinzu. Ich fühlte mich in Schwung. »Die Islamisten sind alte Konservative, die uns unsere Religion stehlen, obwohl sie doch allen gehören sollte. Sie haben nur Verbote und Unterdrückung im Handgepäck. Die arabische Linke, das sind nur alte
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