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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Gewerkschaftler, die immer einem Streik hinterherhinken. Wer soll mich repräsentieren?«
    Jean-François schaute auf einmal in die Ferne.
    »Weißt du, ich bin mir nicht sicher, ob man in Frankreich in politischer Hinsicht besser dasteht. Und noch dazu die Krise …«
    Er schien eine Weile zu überlegen.
    »Hör mal, für dein Reisevorhaben habe ich vielleicht eine Idee. Ich verspreche dir nichts, aber ich kenne einen der Direktoren der Comarit sehr gut. Sie haben Fährverbindungen nach Spanien, aber auch nach Frankreich. Da könntest du wenigstens Land sehen. Du wirst mir hier fehlen, aber gut, wenn du dich in der Welt herumtreiben willst, dann wirst du hier, außer in Büchern, nicht viel Gelegenheit dazu haben.«
    Jeder aus Tanger kannte die Comarit Schifffahrtsgesellschaft, weil ihr Name in Großbuchstaben auf den Fähren prangte, die, aus Tarifa oder Algeciras kommend, in den Hafen einliefen. Mir war nicht richtig klar, was ich auf einer Fähre sollte, ich hatte keinerlei Erfahrung zur See, aber dieses Gespräch machte mir wieder Hoffnung. So frei mit Monsieur Bourrelier zu reden hatte mir bewusst gemacht, wer ich war: ein junger, zwanzigjähriger Marokkaner aus Tanger, der nichts weiter wollte als die Freiheit. Ich schrieb einen langen Brief an Judit, um ihr von dieser Geschichte und den Möglichkeiten, die sich damit auftaten, zu erzählen, sie antwortete mir fast postwendend Siiiiiiiiiiiiiii ; mein Herz jauchzte.

In jener Nacht holten mich meine Albträume wieder ein. Im Traum ohrfeigte ich Judit, ich schlug heftig zu, weil sie eifersüchtig auf Meryem war; ich schlug sie mit aller Kraft, und sie weinte, sie heulte und wehrte sich zwischen den Schlägen, aber sie floh nicht – irgendwann besuchte ich Meryem in ihrem Schlafzimmer, ich begann sie zu streicheln, sie auszuziehen, ich legte meine Hand zwischen ihre Schenkel, es war warm, dann drehte ich mich um zu einem alten Cheikh, der neben dem Bett stand, und er sagte, das ist normal, Lakhdar, der Tod lässt die Leichen von einem bestimmten Moment an wieder warm werden, das ist eben so, und ich erwiderte, das ganze Blut, das dort herausfließt, ist ärgerlich, und er antwortete, aber dieses Blut kommt von dir, und ich schaute meinen Schwanz an, aus der Harnröhre floss eine rote Flüssigkeit, ununterbrochen: Je mehr mich die Berührung mit Meryems glühendem Körper, die Berührung mit ihrem vom langen Tod weiß glühenden Leichnam erregte, umso mehr Blut sprudelte hervor; ich drang in Meryem ein, mein Geschlecht löste sich in ihrem Geschlecht auf; sie hatte die Augen noch immer geschlossen. Anstelle des Cheikh stand jetzt Judit an der Bettkante: Sie sagte, ja, ja, so ist es gut, siehst du, du füllst sie, das ist gut, sieh nur, und tatsächlich rann Blut aus Meryems reglosen Lippen, floss aus ihren Nasenlöchern über ihre weißen Zähne, ich war entsetzt, konnte aber nicht aufhören, ich glitt hin und her in einer klebrigen Wärme.
    Ich erwachte, den Schoß spermaverklebt, der Puls war auf hundert.
    Du bist verrückt, dachte ich, du hast irgendeine schreckliche Geisteskrankheit; vor Angst stöhnend, verkroch ich mich in der Dunkelheit wie ein Köter.

II BARZACH

Als einzige Spuren meiner Kindheit sind mir zwei Fotos geblieben, die ich immer in meiner Brieftasche aufbewahrt habe, eines von Meryem als kleines Mädchen, wie sie in den Ferien im Dorf an einem Baum sitzt, und ein anderes von meiner Mutter mit meiner kleinen Schwester Nour auf dem Arm. Sonst habe ich nichts. Lange Zeit habe ich mich gefragt, was wohl passiert wäre, wenn ich zu meinen Eltern zurückgekehrt wäre, statt immer weiter weg zu fliehen, statt zu versuchen, den Konsequenzen meines Handelns zu entgehen, wenn ich beharrlich geblieben wäre und versucht hätte, koste es, was es wolle, mich durchzusetzen, Buße zu tun, alle Strafen, alle Demütigungen auf mich zu nehmen, ich habe mich lange gefragt, ob sie mich zuletzt wieder aufgenommen hätten, ob ich wieder einen Platz bei ihnen hätte finden können. Die Frage stellt sich ganz sicher nicht, man muss das Reisen annehmen, es ist nur ein anderer Name für das Schicksal. Wie die Soldaten von 1914, die aus ihren Dörfern oder ihren Douars fortgingen, ohne zu wissen, was sie erwartete. Am 21. September 2011 bestieg ich im Hafen von Tanger die Fähre Ibn Battuta der Comanav-Comarit-Gesellschaft zu meiner ersten Fahrt über die Meerenge Richtung Algeciras als Kellner in der Bar und Mädchen für alles, besonders als Mädchen für alles,

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