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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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sechzig Euro pro Leichnam und Tag in Verwahrung: Das war der Gewinn von Señor Cruz.
    Wenn Señor Cruz das Geld für die Überführung erhalten oder die Herkunft eines Unbekannten bestimmt hatte, organisierte er »eine Fracht«; er schob zwei oder drei Särge in seinen Lieferwagen und nahm die Fähre in Algeciras; die Zollformalitäten waren pedantisch, die Särge mussten verplombt, die Fracht musste deklariert werden etc.
    Das Bestattungsinstitut lag in einem kleinen Garten und war von hohen, mit Flaschenscherben bestückten Mauern umschlossen; Señor Cruz’ Haus befand sich einige Hundert Meter davon entfernt – nachts war ich in dieser Vorstadtsiedlung an der Nationalstraße mit den Toten eingeschlossen, und es war trostlos, trostlos und schrecklich.
    Ich kümmerte mich auch um die Pflege des Anwesens und des Gartens; ich wusch Señor Cruz’ Auto und fütterte die Hunde, zwei schöne Huskys mit blauen Augen, die aussahen wie Steppenwölfe – diese Tiere waren wild und sanftmütig, sie schienen aus einer anderen Welt zu kommen. Ich fragte mich, wie sie mit einem solchen Fell den drückend heißen andalusischen Sommer aushielten. Cruz war mir ein Rätsel, düster und nicht zu fassen; seine Gesichtsfarbe war gelbstichig, seine Augen von Ringen gezeichnet; wenn das Bestattungsunternehmen keine Leichen geliefert bekam, saß er den ganzen Tag hinter seinem Schreibtisch, ein Glas Whisky in der Hand, und hörte zerstreut den Polizeifunk, um im Falle eines Leichenfunds als Erster zur Stelle zu sein; er trank immer nur Cutty Sark, ließ sich vom Internet und Hunderten von Videos hypnotisieren, von Kriegsreportagen, grausamen Clips von Unfällen, von Todesfällen voller Gewalt: Dieses Schauspiel schien ihn nicht zu bewegen, im Gegenteil, er verbrachte seine Zeit in einer Art Lethargie, einer Art Nachrichtenapathie – nur seine Hand auf der Maus schien noch lebendig zu sein; er stumpfte sich den ganzen Tag mit Bestialität und Whisky ab, und wenn der Abend anbrach, schwankte er ein wenig, wenn er aufstand, schlüpfte in seine Lederjacke und ging wortlos davon, nachdem er den Schlüssel zweimal im Schloss herumgedreht hatte. Er nannte mich seinen kleinen Lakhdar , wenn er sich mir zuwandte; seine dünne Stimme stand in Kontrast zu seiner Körpergröße, seiner Körperfülle, seiner Fettleibigkeit: Er redete wie ein Kind, und dieser falsche Ton machte ihn noch unheimlicher.
    Er war ein armer Kerl, und ich wusste nicht, ob er mir Schrecken oder Mitleid einflößte; er beutete mich aus, schloss mich ein wie einen Sklaven; er verbreitete eine schreckliche Niedergeschlagenheit, den Fäulnisgeruch einer einsamen Seele.
    Ich musste weg von Cruz; als er mich eines Nachmittags das erste Mal in der Stadt spazieren gehen ließ, war ich unschlüssig, ob ich einfach spurlos verschwinden, in einen Bus Richtung Norden steigen oder eine Fähre nach Marokko nehmen sollte – doch ich hatte nichts, kein Geld, keine Papiere, er hatte meinen Pass behalten, denn ich war so dumm gewesen, ihm diesen auszuhändigen, und wenn ich kontrolliert worden wäre, hätte man mich wahrscheinlich festgenommen und in den Knast gesteckt, bevor man mich ausgewiesen hätte.
    Ich vertraute mich dem Imam aus der Moschee an, der das Totengebet für unsere Toten sprach; ich erklärte ihm, dass Señor Cruz ziemlich eigenartig sei, was der Imam nicht bestritt, wiewohl er mit den Schultern zuckte, als wollte er damit seine Machtlosigkeit ausdrücken. Er erzählte mir, dass mein Vorgänger seiner Meinung nach aus ebendiesem Grund davongelaufen sei, denn Cruz sei ein merkwürdiger Mensch, der jedoch den Toten und der Religion Respekt zolle. Das sei alles.
    Von dort aus betrachtet, umwehte die langen Tage auf der Ibn Battuta ein Hauch von Paradies.
    Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, über die Mauer zu klettern, was nicht sehr schwierig war, Cruz würde nicht so weit gehen, mir hinterherzurennen; doch zuvor musste ich an meine Papiere und mein Geld kommen.
    Eines Tages fuhr Señor Cruz im Morgengrauen mit dem Leichenwagen fort; er kam mit einer Ladung Toter zurück – siebzehn, eine Patera hatte vor der Küste von Tarifa Schiffbruch erlitten, und die Strömung hatte die Strände mit Leichen übersät. Er war sehr froh über diese Ernte, ein bizarres Glück, vor allem aber wollte er nicht den Eindruck erwecken, er sei glücklich darüber, sich auf Kosten der armen Ertrunkenen zu bereichern, doch ich spürte hinter seiner den Umständen geschuldeten Maske und an der

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