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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Art, wie er seine Hunde streichelte, wie er mich mein kleiner Lakhdar nannte, dass er hocherfreut über das Aufleben seines Geschäfts war, und zugleich schämte er sich dafür.
    Siebzehn. Eine kleine ungeheuerliche Zahl. Wenn man im Radio oder im Fernsehen die Opferzahl hört, die diese oder jene Katastrophe gekostet hat, macht man sich nicht klar, was siebzehn Leichen bedeuten. Man sagt, ah, siebzehn, das ist nicht viel, es könnten tausend, zweitausend, dreitausend Tote sein, aber siebzehn, siebzehn ist nichts Besonderes, und doch, es ist dennoch eine gewaltige Anzahl von erloschenen Leben, toten Leibern, sie nehmen viel Platz ein, im Gedächtnis wie in der Kühlkammer, es sind siebzehn Gesichter und mehr als eine Tonne Fleisch und Knochen, viele Zehntausend gelebte Stunden, Milliarden verschwundener Erinnerungen, Hunderte Menschen zwischen Tanger und Mombasa, die von einem Trauerfall betroffen sind.
    Als ich einen nach dem anderen von diesen Typen in sein Leichentuch einwickelte, weinte ich; die meisten waren jung, in meinem Alter, wenn nicht jünger; manche hatten gebrochene Gliedmaßen oder blaue Male im Gesicht. Sie schienen überwiegend arabischer Herkunft zu sein. Unter ihnen befand sich der Leichnam eines Mädchens. Sie hatte sich mit Henna eine Telefonnummer auf den Arm tätowiert, eine marokkanische Telefonnummer. Sie hatte langes, tiefschwarzes Haar, das Gesicht war grau. Ich war in Verlegenheit; ich wollte ihre Brüste, ihr Geschlecht nicht sehen; normalerweise hätte ich sie nicht in den Sarg legen dürfen, es wäre die Aufgabe einer Frau gewesen. Ich fürchtete mich vor meinem eigenen Blick auf diesen weiblichen Körper; ich dachte an die tote Meryem – sie war es, die ich in den Sarg legte, endlich konnte ich sie bestatten, und in der Nacht, allein mit meinen Albträumen, stellte ich mir vor, wie die Polizei bei der tätowierten Nummer anrief, wie eine Mutter oder ein Bruder abnahm, wie eine fast mechanische Stimme ihnen die Nachricht überbrachte, sie sehr laut wiederholte, um verstanden zu werden, dass ihre Tochter oder Schwester tot sei, so wie bei meinem Onkel eines Tages das Telefon geklingelt haben muss, als man ihm die schreckliche Nachricht übermittelte, wie es eines Tages auch für uns, einen nach dem anderen, klingeln würde, und liebevoll, wie ein Bruder, legte ich diese Unbekannte ganz vorsichtig, voller Scham, in ihren metallenen Sarkophag.
    Vielleicht kann man sich den Tod wirklich nur vorstellen, wenn man seinen eigenen Leichnam in den Leichnamen der anderen sieht, die jung waren wie ich, Marokkaner wie ich, Kandidaten fürs Exil wie ich.
    Abends schrieb ich Gedichte für alle dieses Verstorbenen, geheime Gedichte, die ich anschließend in ihren Sarg steckte, ein paar Worte, die mit ihnen verschwanden, eine Hommage, eine Ritha ; ich gab ihnen Namen, versuchte, sie mir lebendig vorzustellen, mir ihr Leben, ihre Hoffnungen, ihre letzten Minuten vorzustellen. Manchmal sah ich sie im Traum.
    Ich habe ihre Gesichter nie vergessen.
    Mein Hass auf Cruz wuchs; es war irrational, denn abgesehen davon, dass ich halb in Gefangenschaft lebte, war er kein schlechter Mensch; er brach unter der Last der Leichen zusammen; er hatte nur diese merkwürdige Perversion, sich den ganzen Tag über Videos mit Darstellungen von unvorstellbarer Gewalt anzusehen, Enthauptungen in Afghanistan, Erhängungen während des Zweiten Weltkriegs, Autounfälle aller Art, durch Bombardements verbrannte Leichen.
    Ich musste so schnell wie möglich verschwinden.
    Tagein, tagaus trauerte ich Casanova und meinen Soldaten nach. Ich dachte an Judit, ich schickte ihr SMS -Botschaften und telefonierte manchmal mit ihr; die meiste Zeit antwortete sie weder auf meine Nachrichten, noch nahm sie den Anruf an, und ich hatte das Gefühl, in der Vorhölle zu sein, im Barzach , unerreichbar zwischen Leben und Jenseits.
    Die einzigen Bücher, die ich besaß, waren der Koran und zwei spanische Krimis, die ich antiquarisch in der Stadt gekauft hatte, nichts Besonderes, aber gut, man konnte sich die Zeit damit vertreiben. Dann bekam ich drei Tage Urlaub, weil Cruz zur Auslieferung einer Ladung Leichen auf die andere Seite der Meerenge fuhr. Er konnte mich nicht die ganze Zeit über einsperren, also gab er mir ein wenig Taschengeld (bis dahin hatte ich noch nichts von meinem Lohn gesehen), damit ich mich in der Stadt vergnügte, wie er sagte. Ich verbrachte meine Tage damit, auf den Kaffeehausterrassen ganz ruhig zu lesen und einige Bierchen

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