Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
Vom Netzwerk:
vielleicht nicht der allerbeste Namen.
    Jedenfalls brachte uns dieser Casanova-Streich dreißig Euro ein (nachdem wir festgestellt hatten, dass keines der verkauften Lose gewonnen hatte, andernfalls wäre es eine Katastrophe gewesen oder vielmehr ein Bankrott), von denen ein paar Euro für die Farbkopie von hundert Losen abgezogen werden mussten: Es reichte, um mit Mounir ausgiebig Kaffee zu trinken und essen zu gehen, das war es aber auch.
    Ich war wirklich weit entfernt davon, ein Casanova zu sein.

Eingesperrt sein in der Erwartung von Gewalt: Der April verstrich mit Bücherlesen, mit ein paar Ausflügen an den Strand (ein von Britinnen mit rosigen Brüsten, sandblonden nordischen Mädchen und Brasilianerinnen mit affengeilen Strings bevölkertes Paradies) und mit Enttäuschungen im Fußball, die für meine Kumpel ziemlich schlimm waren, mir jedoch nicht sehr zu Herzen gingen – ich richtete mich in meinem Alltag ein; allerdings versuchte ich, wachsam zu bleiben, das Viertel nicht zu oft zu verlassen. Ich musste weiterhin auf der Hut sein: Beim Versuch, auf der Plaça de Catalunya einem Touristen den Geldbeutel zu stibitzen, hatte Mounir Pech gehabt und war festgenommen worden. Natürlich hatte er seinen Ausweis nicht dabei, er behauptete, er sei obdachlos und Palästinenser aus Gaza, was ihm, wie er selbst sagte, die Sympathie der Gendarmen einbringen und seine Abschiebung erschweren sollte. Er verbrachte einen Tag im Knast, dann wurde er mit der Auflage freigelassen, sich am folgenden Tag zu melden, was er natürlich nicht machte – er zeigte mir die Vorladung, sie war an Mounir Arafat adressiert. Auf meine Frage, warum er ein solches Pseudonym gewählt habe, antwortete er, das sei der einzige rein palästinensische Familienname, der ihm eingefallen sei, worüber wir uns vor Lachen ausschütteten. Der Dolmetscher, der ins Kommissariat gerufen worden war, hatte den Braten natürlich gleich gerochen, aber der Typ sei, sagte Mounir, richtig cool gewesen, ein Syrer, der ihn nicht verraten habe.
    Er war ziemlich überrascht: Er hatte damit gerechnet, verprügelt zu werden, doch außer ein paar Ohrfeigen, die durchaus gerechtfertigt waren, und ein oder zwei Demütigungen hatten sich die Bullen recht gesittet aufgeführt.
    Mounir war also wie ich jetzt doppelt flüchtig, als Illegaler und als amtlich anerkannter Dieb.
    Er wusste, dass er sich das nächste Mal nicht so einfach aus der Affäre würde ziehen können.
    Neben diesen justitiablen Freuden war ich mit einer ungleich schlimmeren Sache beschäftigt: Judits Zustand wurde immer alarmierender. Sie nahm fast keine Nahrung mehr zu sich, verbrachte die Tage im Dunkeln, denn Licht, sagte sie, bereite ihr Kopfschmerzen; der Arzt schwankte zwischen Stirnhöhlenvereiterung und Heuschnupfen, was die Schwellung erklärte, hinzu kam noch eine depressive Grundstimmung. Sie war deshalb mit Medikamenten aller Art vollgestopft und schlief die meiste Zeit des Tages. Für die Arabischstunden fehlte ihr die Kraft: Ich begnügte mich also damit, sie zu besuchen, ein oder zwei Stunden bei ihr zu bleiben. Ich las ihr etwas vor, erzählte ihr eine Geschichte von den Reisen Ibn Battutas, und oft schlief sie, gewiegt von meiner Stimme, auf dem Sofa ein und erwachte erst wieder, wenn ich wegging. Sie erzählte mir, sie habe häufig seltsame Träume, in denen sie glaube, wach zu sein, und darum kämpfe, einschlafen zu können. Dieser quälende Zustand verfolgte sie so lange, bis sie wirklich aufwachte und begriff, dass ihre Schlaflosigkeit ein Traum war.
    Mich von Judit zu verabschieden war immer sehr traurig – ich kehrte jedes Mal zu Fuß in die Carrer Robadors zurück, um die möglichen Kontrollen in der U-Bahn zu vermeiden, der feindlichen unterirdischen Welt, die von Wachleuten und Hunden mit Maulkörben bevölkert war, und ich benötigte den ganzen Weg, damit der Kummer und der Schmerz, den mir Judits Zustand bereitete, etwas nachließen. Selbst wenn es, wie ihr Arzt meinte, nur eine vorübergehende Schwäche war, eine Folge verschiedener Faktoren, die keinen Anlass zur Sorge gaben, für mich war diese Krankheit eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, die mir die einzige Person entzog, die mir wichtig war.
    Von heute auf morgen hatte ich wieder zu schreiben angefangen – Gedichte, die verglichen mit meinen Vorbildern so schlecht waren, dass ich sie sofort zerknüllte, sodass mich das Schreiben mindestens ebenso verzweifeln ließ wie Judit, die sich in ihre endlose Schläfrigkeit

Weitere Kostenlose Bücher