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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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zurückgezogen hatte.
    Es war, als stünde die Welt still, als hätte sie angehalten; ich wartete darauf, dass sie umkippen würde, dass etwas passieren würde – auf ihre Zerstörung in den Flammen der Revolution oder auf einen neuen Schicksalsschlag.
    Oft aß ich allein zu Mittag in dem kleinen marokkanischen Restaurant in der Straße der Diebe, wo man sich nach Tanger zurückversetzt fühlte: Dieselben Speisen, dieselben Kellner, sogar die Farben, es erinnerte mich an die Gaststätte, in die Cheikh Nouredine uns immer freitags nach der Moschee zum Mittagstisch mitnahm, nur dass ich jetzt allein war; im Speisesaal bestellte ein Junkiepaar eine Chorba für beide, sie setzten sich nebeneinander, Schulter an Schulter, um sich zu stützen, und schafften es nicht einmal, gemeinsam eine Portion aufzuessen.
    An diesem Ort bekam ich immer Heimweh, und ich ärgerte mich jedes Mal über mich: Es war mein Wunsch gewesen, nach Barcelona zu kommen, sollte ich jetzt über meinem Teller etwa Tanger nachweinen. Ich dachte an meine Mutter, an meine Familie, an Bassam natürlich.
    Ich stellte fest, dass ich nicht mehr besonders oft in die Moschee ging, nur zum Freitagsgebet, und das auch nur ab und zu. Manchmal las ich den Koran und seine Kommentare, das ist wahr, aber ich tat es immer seltener. Es fiel mir schwer, wieder die für das Gebet erforderliche Konzentration aufzubringen; ich hatte das Gefühl, nicht mehr für Gott da zu sein, einen mechanischen Vorgang abzuspulen. Der Glaube war eine abgestorbene Haut, die Cruz und die Bücher, die ich las, von mir abgezogen hatten; geblieben waren mir nur die religiösen Rituale, und die waren ziemlich leer, einfache Verbeugungen ohne Widerhall.
    Manchmal begann ich plötzlich, mich nach Paris, nach Venedig zu träumen; mit einem gültigen Pass wäre ich gerne dorthin gefahren: nach Paris, um Krimis zu kaufen, die Seine zu sehen; nach Venedig, um die Stadt Casanovas zu besichtigen, die Orte seiner Streiche aufzusuchen, auf der Lagune herumzufahren.
    Zu keinem Zeitpunkt erwähnt Ibn Battuta Pässe, Ausweise, Passierscheine in seinen Reiseberichten; er scheint nach seinem Belieben zu reisen und nur Räuber zu fürchten, wie sich Saadi der Seemann vor Piraten fürchtete. Es war niederschmetternd, wenn man daran dachte, dass man heute, sofern man Mörder, Dieb oder eben einfach nur Araber war, nicht einfach die Serenissima oder die Stadt des Lichts besuchen konnte. Ich habe sogar einen Augenblick darüber nachgedacht, die Verbindungen in der Straße der Diebe zu nutzen, um mir eine neue Identität zu verschaffen, doch soweit ich es aus meinen Büchern wusste, war das sehr schwierig, und in der heutigen Zeit brachte es oft wenig, es sei denn, man entschied sich für einen libyschen, sudanesischen oder äthiopischen Pass, der ohne den goldbraunen und schillernden Aufkleber des Schengen-Visums zu nichts zu gebrauchen war. Ich glaube, wenn Judit nicht gewesen wäre, hätte ich alles auf eine Karte gesetzt, wäre nach Algeciras zurückgekehrt, hätte versucht, in der Gegenrichtung heimlich durch den Zoll im Hafen zu schlüpfen, was nicht allzu schwierig hätte sein dürfen, und wenn ich erst in Marokko angekommen wäre, hätte ich nur noch beten müssen, dass die Zöllner meines Heimatlandes noch nie etwas von mir gehört hatten und mich in den heimatlichen Schoß zurückließen. Dann hätte ich mir von meinem versteckten Geld eine Wohnung in Tanger genommen und wäre zu meinen gefallenen Soldaten und zu Jean-François Bourrelier zurückgekehrt, dem Weltmeister der kilometrischen Datenerfassung. Und ein paar Jahre später, sobald meine Verbrechen verjährt und ich auf dem Rücken von einer Million dreihunderttausend gefallenen Frontsoldaten reich geworden wäre, hätte ich ein Touristenvisum beantragt, um nach Venedig und nach Paris zu reisen. Ganz einfach.
    Doch ich hatte die Hoffnung, dass einer meiner Küsse Judit von ihrer Krankheit befreien würde, dass sie eines Tages aufwachen würde mit dem Entschluss, wieder mit mir zusammen zu sein, tagaus, tagein. Und trotz der Verhältnisse, trotz der großen Not in der Straße der Diebe, wohnte ich nicht schlecht – es war für mich gerade mal eine Etappe; das wahre Leben hatte noch immer nicht begonnen, war wie immer auf später verschoben: vertagt im niedergebrannten »Haus der Verbreitung des koranischen Gedankenguts«, hinausgeschoben auf der Ibn Battuta , der ruinierten Fähre, zurückgestellt bei Cruz, dem Hund unter Hunden, und es blieb auch

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