Straße der Diebe
in Barcelona in der Schwebe, hing ab vom Fortgang der Krise und Judits Belieben. Auf der Flucht, fortwährend. Es gab offene Rechnungen, die noch nicht beglichen waren, und während draußen alles verbrannt ist, Europa, die arabische Welt, während die Flammen die Bücher verzehrt haben, während der Hass uns überwältigt und die Welt von gestern mit blindwütiger Versessenheit zerstört hat, während die Hunde knurren, sich aufeinanderstürzen, um sich gegenseitig umzubringen, erscheinen mir die letzten Wochen in der Straße der Diebe, in meinem lärmenden Kloster, meinem Konvent für diebische Derwische, heute wie ein finsteres Glück, die Klinge eines Rasiermessers, von dem man nicht weiß, welche Kehle es durchschneiden würde: Wie der Seiltänzer die Möglichkeit eines Absturzes ausblenden muss, damit er sich auf seine Schritte konzentrieren kann – er sieht nach vorn, balanciert vorsichtig mit der Stange, die ihn vor dem Abgrund bewahrt, und geht dem Unbekannten entgegen –, stapfte ich weiter, ohne an das Verhängnis zu denken, das mich bis nach Barcelona getrieben hatte; mit tierischem Riecher witterte ich den nahenden Sturm, der über mich hereinbrechen, in mir losgehen würde, und vergaß ihn gleich wieder beim Versuch, die Leere hinter mir zu lassen.
Es war Cheikh Nouredine, der mir eine kurze E-Mail-Nachricht geschickt hat; das Leben ist eine merkwürdige Sache, ein geheimnisvolles Arrangement, eine Logik, die kein Erbarmen kennt mit einem belanglosen Schicksal. Er komme mich besuchen. Er müsse zu einem Treffen nach Barcelona kommen, in geschäftlicher Angelegenheit. Ich gebe zu, ich freute mich, ihn wiederzusehen, wenngleich ein wenig besorgt – das Attentat von Marrakesch hallte ein Jahr später noch immer nach. Auch der Brand im Haus der »Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts«. Fragen, die ich so lange immer wieder durchgegangen war – sie hatten nach und nach ihren Sinn verloren.
Cheikh Nouredine war ein mächtiger Mann – er verschwand, wann es ihm passte, und tauchte nach Belieben wieder auf als unbewaffneter Arm einer frommen Stiftung aus Saudi-Arabien oder Katar, ohne Probleme mit Pass, Visum, Geld. Immer elegant, im Anzug, mit weißem Hemd, ohne Krawatte natürlich, ein zurechtgestutzter kurzer Bart, ein kleiner schwarzer Koffer; er sprach bedächtig, lächelte, lachte sogar manchmal; seine Stimme konnte sich von Zärtlichkeit über Brüderlichkeit zu Kampfgeschrei aufschwingen, ich höre noch manchmal im Schlaf diese Reden über die Schlacht von Badr, Ich werde euch mit tausend Engeln unterstützen, die einer dicht hinter dem anderen stehen
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man hatte den Eindruck, er kannte den gesamten Koran auswendig,
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Gott hat euch doch in Badr zum Sieg verholfen, während ihr ein bescheidener, unscheinbarer Haufe waret , durch seinen Mund bekam der Text seine Strahlkraft, funkelte von den tausend Lichtern dieser vom Herrn versprochenen Engel; stundenlang erzählte er uns die Geschichte von Bilal, dem Sklaven, den man wegen seines Glaubens gefoltert hatte, der der erste Muezzin des Islam wurde und der den Bewohnern von Medina, wenn er zum Gebet rief, allein mit seiner Stimme die Tränen in die Augen trieb – und alle diese Erzählungen erfüllten uns mit Kraft, ob mit der Kraft der Freude oder der Wut, das hing vom Thema ab.
Cheikh Nouredine wiederzutreffen war ein ZEICHEN : Ein Teil von mir, meines Lebens, meiner Kindheit tauchte in Barcelona wieder auf, und trotz der Zweifel, der Rätsel, der Scham wegen des nächtlichen Überfalls seines Schlägertrupps in Tanger fiel ein wenig Licht in die Straße der Diebe.
Ich erzählte das alles Mounir, ohne die besonders verwirrenden Einzelheiten anzusprechen, und es gelang mir, sogar ihm, der alles, nur nicht religiös war, ein wenig von der Energie Cheikh Nouredines zu vermitteln, er wollte ihn so schnell wie möglich kennenlernen. Ich hoffte insgeheim, dass das Ziel seiner Reise die Eröffnung eines Büros mit Buchladen in Barcelona sei, um den ich mich wie in Tanger kümmern konnte; das hätte erklärt, warum er wieder Kontakt zu mir aufgenommen hatte. Ich malte mir einen kleinen Buchladen im Raval aus, mit spanischen, arabischen und, warum auch nicht, französischen Büchern – ein Wunder. Ein Buchladen, dessen Fundament mehrheitlich aus Werken aus Saudi-Arabien bestanden hätte, aber mit einem oder zwei Regalen Kriminalromanen und einem Regalbrett mit Würdigungen Casanovas, kurz und gut, ein Ort nach meinem Geschmack. Ja,
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