Strasse der Sterne
jener formlose Gedanke, der den ganzen Abend in ihr gekreist hatte: Es bedeutete großes Unglück, wenn ein Familienmitglied beim Räuchern fehlte - möglicherweise sogar den Tod.
*
»Die Sache ist noch nicht vom Tisch, Heinrich.« Unter der bleichen Haut des Hansgrafen schimmerten Bartstoppeln. Gerhard unter den Scheren war etwa gleich alt wie der Weltenpurger. Augenschatten verrieten die langen Stunden, die er am Schreibpult verbrachte.
»Ich habe nichts Unrechtes getan.« Heinrichs Stimme war ruhig.
»Das sehen einige anders, und ich kann nicht umhin, mich ihrer Betrachtungsweise anzuschließen. Es gibt schließlich Regeln für die Kaufmannschaft der Stadt. Und die gelten auch für dich.«
Der Hansgraf stand auf, als sei ihm sein Stuhl plötzlich zu unbequem geworden. Es war kühl im Raum.
»Ich kann mich nicht entsinnen, eine davon missachtet zu haben«, sagte Heinrich. »Falls du auf das Silber anspielst, das ich dem Stanglreiter zugesteckt habe ...«
»Du gibst es also zu?« Jetzt wurde der Ton lauernd.
»Das Wetter war verheerend. Und die Arbeit der Flussreiter ist mehr als hart, das weißt du ebenso gut wie ich. Sie haben mir Leid getan. Das war alles.«
»Wie mildtätig! Aber nicht überzeugend. Denn deine Waren befanden sich auf dem Keilheimer. Doch du warst nicht an der Reihe. Zufall? Oder nicht doch Kalkül?«
Gerhard unter den Scheren gehörte einer der angesehensten Familien Regensburgs an. Seit Generationen waren seine Vorfahren wohlhabende Kaufleute. Dennoch hatte er viel investieren müssen, damit die Wahlmänner schließlich für ihn gestimmt hatten. Das Amt war wichtig für ihn - und jetzt wollte er offenbar seine hart erkämpfte Macht auch unter Beweis stellen.
»Manchmal haben wir eben keine Wahl«, sagte Heinrich nach einer Weile und spielte mit seinem Ring. Ein großer Labradorit mit goldenen Einsprengseln schmückte ihn. »Keiner von uns.«
Der Hansgraf überhörte die Anspielung geflissentlich.
»Du störst den Frieden der Gemeinschaft. Wir gehören nun mal zusammen, auch wenn jeder von uns sein Geschäft machen möchte.« Er räusperte sich. »Einige haben sogar verlangt, dass ich den Bürgermeister hinzuziehe.«
»Tu, was du tun musst. Ich selber halte es nicht anders.«
»So stolz, Heinrich, so hochmütig?« Der Hansgraf begann die Geduld zu verlieren. »Mir scheint, du verkennst deine Lage! Ich könnte ein Schiedsgericht einberufen. Willst du dir das wirklich antun?«
Er wirkte plötzlich so verärgert, dass Heinrich einzulenken beschloss.
»Was verlangst du?«, sagte er. Die Vorstellung, sich einem Urteil seiner Neider zu beugen, war alles andere als verlockend. »Wo und vor wem soll ich mein Knie beugen?«
»Du wirst dich in unserer nächsten Versammlung öffentlich entschuldigen und auf die Hostie schwören, in Zukunft alle Beschlüsse zu beachten. Als Zeichen deines guten Willens vermachst du der Wahlenwacht, zu der dein Anwesen gehört, zweihundert böhmische Silbergroschen.«
Heinrich sog die Luft laut ein.
»Deine Buße hätte auch empfindlicher ausfallen können.« Die Stimme des Hansgrafen verriet, wie ernst es ihm war. »Aber ich schätze und achte dich. Du bist einer von uns, Heinrich! Mach es dir und uns doch nicht unnötig schwer!«
»Ist das alles?« Der Weltenpurger wandte sich zum Gehen. Er hatte genug von der stickigen Luft und der Engstirnigkeit, die ihm entgegenschlug.
»Was hat es eigentlich mit den Lumpen auf dem Wöhrd auf sich?« Etwas verschloss Heinrich den Mund. Pilar hatte es vorausgesehen. Sie verstanden ihn nicht. Niemals würden sie ihn verstehen! »Könnte es sein, dass du dich heimlich am Papiermachen versuchst?«, fuhr unter den Scheren fort.
»Eine Liebhaberei.« Er sehnte sich nach klarer, kalter Winterluft. »Ist das neuerdings auch verboten?« Jetzt sah er den Hansgrafen offen an.
Gerhard unter den Schweren musterte ihn kühl.
»Ich warne dich, Heinrich! Nicht wenige von uns handeln mit Papier - ein solides, einträgliches Geschäft, das seinen Mann ernährt. Solltest du mit eigenmächtigem Handeln gegen unsere Interessen verstoßen, musst du mit Konsequenzen rechnen ...«
*
Pilar genoss den scharfen Wind, der ihr Gesicht rötete, das Schaukeln der Wellen, sogar die Schneeflocken, die sich wie eisige Kristalle auf Haube und Umhang legten. Das kleine Boot kämpfte gegen die Strömung an. Selbst hier, ein ganzes Stück von der Steinernen Brücke entfernt, war der Sog zu spüren, der schon einige unter ihre Pfeiler gerissen
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