Strasse der Sterne
ließ sie in ihren Beutel gleiten.
*
Da waren Zeichen, die seine Besorgnis weckten: das müde Gesicht des Herrn, Pilars gereizte Heiterkeit, Spuren von hastig aufgewischtem Erbrochenem. Er war nicht verrückter als ein dürstendes Tier, das Salzwasser getrunken hatte. Aber er konnte weder Nase noch Ohren belügen und schon gar nicht sein Herz. Sobald er jedoch zu erfassen versuchte, was zwischen diesen Mauern schwang, verflüchtigte es sich wieder.
Sein Misstrauen wuchs mit jedem Tag. Der Herr schloss sich oft im obersten Turmzimmer ein. Aus der Küche drangen seltsame Gerüche. Magda fauchte jeden wie eine Wildkatze an. Er konnte nichts Auffälliges entdecken. Aber er spürte, dass nichts so war, wie es sein sollte. Sein Schweigen wurde tiefer, als lasteten all die Geheimnisse wie schwerer Schnee auf ihm.
Mitten im Winter glaubte Tariq plötzlich die weiche Luft seiner Heimat zu spüren. Er roch die Myrten, ein scharfes, heißes Aroma, das besonders um die Mittagszeit betäubend werden konnte. In seinem Ohr plätscherten künstliche Wasserläufe. Und ein Bild schob sich vor alle anderen: eine junge, hellhäutige Frau in fließenden roten Gewändern, die einen Jungen an sich drückte.
Die Freuden und Lasten der Vaterschaft waren ihm vertraut, obwohl er nie ein Kind gezeugt hatte. Damals in León war er selbst noch halbwüchsig gewesen, ein erschrockener Junge, der nicht fassen konnte, was seine Augen zu sehen und seine Ohren zu hören bekamen. Jetzt war er ein Mann und abermals schienen ihm die Hände gebunden.
Aber hatte die Herrin ihm nicht die niña anvertraut, bevor sie fortgegangen war? Hatte sie ihm nicht das Vermächtnis übergeben mit der Aufforderung, es sicher für Pilar aufzubewahren?
Er konnte sie fühlen, wenn er sich auf sie einstimmte, für ihn Beweis genug, dass sie noch lebte. Die Herrin hatte ihn ausgezeichnet, vor allen anderen, und er würde sich dieses Vertrauens würdig erweisen. Ihretwegen wachte er über Pilar. Ihretwegen ertrug er die Kälte Regensburgs und seiner Bewohner, wie er schon einmal ihretwegen den Hochmut Leóns ertragen hatte.
Niemals schwand seine Vorsicht, auch, wenn er ihre Sprache inzwischen beherrschte, die nicht die Ohren fütterte, sondern für ihn stets wie das Knarren einer schlecht geölten Tür klang. Vielleicht waren deshalb seine Sinne so scharf, sein Schlaf so leicht.
Er liebte die Herrin. Ein Wissen verband sie, das sie mit keinem anderen teilten: sein Leben gegen ihres.
Manchmal erschien es ihm, als sei etwas davon auch zwischen Pilar und ihm lebendig. Nicht einmal ihre fortschreitende Blindheit schmerzte ihn, denn er wusste, dass sie mit dem Herzen sehen konnte. Vielmehr bereitete ihm Sorge, was geschehen würde, wenn sie diesen plumpen Kaufmann zum Mann nahm. Tariq konnte sich nicht vorstellen, dass er einen Mauren unter seinen Dienern wünschte, obwohl Pilar stets das Gegenteil versicherte.
Was immer auch geschehen mochte, seine Vorbereitungen waren getroffen. Wenn die Sonne sank, war er in Gedanken wieder unterwegs. Richtung Westen ging seine Reise, bis zu jenem großen Gebirge, hinter dem das Land lag, in dem er geboren war. Viele Jahre waren vergangen, seit er damals mit der Herrin den umgekehrten Weg gegangen war. Aber seine Füße erinnerten sich noch an die ausgetretenen Pfade, seine Zunge schmeckte wie damals den Staub, seine Haut spürte wieder Hitze, Regen und Schnee.
Tariq hatte keine Angst, diese Reise noch einmal anzutreten. Sie würde ihn führen, wohin er wirklich gehörte. Seine Beine bewegten sich, während er vor seinem inneren Auge wieder und wieder die Strecke heraufbeschwor, um nichts davon zu vergessen.
Straßenränder in tiefem Schatten. Hahnenschreie, die die Morgendämmerung ankündigten. Auf beiden Seiten des Weges wogende Getreidefelder wie ein grünes Meer. Wicken, feucht von Tau. Wassertropfen an jedem Grashalm. Ein Licht, das betrunken machte und alte Sehnsüchte weckte ...
Manchmal, wenn er die Lider lang genug geschlossen hielt, überkam ihn das Gefühl, er sei bereits seit Ewigkeiten unterwegs.
Und nicht allein aufgebrochen.
*
Schlaflos warf sie sich in ihrem Bett herum, aber der Morgen wollte nicht kommen. Nicht einmal der Schlaf war ihr gnädig. Dafür stachen Heinrichs Worte noch immer wie spitze Nadeln. Er hatte die Mandelsuppe nicht angerührt, die sie ihm vorgesetzt hatte, und dass der Zauber des brodelnden Topfes, den sie einige Male vergeblich bemüht hatte, doch noch wirken könne, glaubte sie längst
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