Straße der Toten
»ich hab Sie ganz vergessen.«
»Schon gut«, sagte Abby.
David richtete den Revolver auf die gegenüberliegende Straßenseite, spannte den Hahn und schoss. Immer wieder, bis die Trommel leer war. Keiner der Schüsse traf, aber immerhin näherten sie sich allmählich den Stöckchen.
Er gab dem Reverend den leeren Revolver zurück. »Verdammt«, sagte er.
»Das braucht viel Zeit und Geduld«, sagte der Reverend. »Wenn du ihn immer wieder spannst und dich allmählich an das Gewicht gewöhnst, entwickelst du auch die nötigen Muskeln in deinem Unterarm. Der Revolver wird zu einer Verlängerung deines Unterarms« – er hob den Revolver und zielte – »bis die Kugel dann fast mehr aus dir selbst rauskommt als aus der Waffe.«
Der Reverend lud nach und verstaute den Revolver wieder in der Schärpe über seinem Hosenbund. Natürlich wollte er David zeigen, wie man es richtig machte, aber er merkte auch, wie er damit ein bisschen vor Abby angab.
Jetzt riss er den Revolver mit der Linken hoch, spannte und feuerte sechs Mal hintereinander, und sechs Stöckchen waren weg.
»Wow! Sie sind wirklich besser als Wild Bill Hickok!«
»Hab ich dir doch gesagt.«
Der Reverend lud nach, steckte den Revolver wieder weg. Dann zog er mit der rechten Hand, schoss, warf sich die Waffe in die linke Hand, schoss, warf sie wieder zurück und hin und her, bis sechs weitere Stöckchen weg waren.
Zwölf Schüsse insgesamt, sechs linkshändig und sechs im Wechsel, und keiner daneben.
Abby applaudierte.
»Danke, Ma’am«, sagte der Reverend. Und zu David: »Geh rüber und schau nach, wie knapp über dem Boden ich sie weggeputzt hab.«
David rannte hinüber, um nachzusehen.
Alle zwölf Stöckchen waren glatt über dem Boden abrasiert.
Zwölf?
Er hatte nur elf in die Erde gesteckt, da war er sich ganz sicher.
Na ja, egal, hatte der Reverend eben noch eins getroffen. Doch als er sich bückte und das Stöckchen, das er gar nicht aufgestellt hatte, genauer in Augenschein nahm, stellte er fest, dass es anders war als die anderen.
Er scharrte rundherum etwas Erde weg und erkannte, was es wirklich war. »Reverend«, schrie er, »kommen Sie, schnell!«
Neun
Der Reverend steckte seine Waffe weg und schlenderte zügig über den schattigen Waldweg. Abby folgte ihm.
Neben David ging er in die Hocke, um sich das Stöckchen anzusehen.
Es war kein Stöckchen.
Es war ein obszön emporragender menschlicher Finger, dessen erstes Glied er am Gelenk weggeschossen hatte.
Der Reverend scharrte die Erde rundherum weg und förderte bald eine menschliche Hand zutage.
Er grub weiter.
Und grub ein hässliches, verdrecktes Gesicht mit einer Augenklappe aus – die zur Seite gerutscht war, sodass die leere Augenhöhle sich mit Walderde gefüllt hatte. Darin räkelte sich ein Wurm.
»Bill Nolan!«, sagte David. »Der Kutscher, der verschwunden ist.«
Der Reverend legte auch noch den Rest der Leiche frei.
Als der ausgegrabene Kutscher vor ihnen lag, sagte er: »Geh zurück zum Wagen und hol die Decke, David.«
David lief los.
Abby ging neben dem Reverend in die Hocke. Der Tote roch ziemlich streng. »Heute ist wohl unser Leichentag. Was ist mit ihm passiert?«
»Keine Ahnung. Aber irgendjemand hat die Leiche versteckt.«
David kam mit der Decke zurück. Der Reverend breitete sie neben Nolan aus, dann hoben er und David ihn hoch, legten ihn auf die Decke und schlugen sie über ihm zusammen, sodass die Leiche eingehüllt war.
»Also gut, David«, sagte der Reverend, »bringen wir ihn zum Wagen.«
Sie trugen die Leiche hinüber, legten sie auf die Zeltstangen, und mit David hinten bei der Leiche und Abby und dem Reverend vorne auf dem Kutschbock ging es zurück nach Mud Creek.
Eine Hand des Toten rutschte unter der Decke hervor, und als ein Sonnenstrahl darauffiel, fing sie an zu qualmen.
Langsam glitt die Hand zurück unter die Decke.
Die Lebenden hatten es nicht bemerkt.
Zehn
Sie fuhren Nolan zum Bestatter und ließen den Doktor rufen.
»Nett, Sie wiederzusehen«, sagte Doc zum Reverend. Der Reverend nickte nur.
»Brauchst du mich da drin, Dad?«, fragte Abby.
»Das krieg ich schon alleine hin. Leiste du David und dem Reverend Gesellschaft.«
Doc und Mertz ließen die anderen im Vorzimmer zurück und gingen nach hinten zu der Leiche. Diese lag auf einer Tischplatte neben einem Eiszuber mit dem nackten, gewaschenen und gekühlten Bankier.
Doc sah in den Zuber, dann zu Mertz.
»So bleiben sie frisch. Er wird erst morgen Nachmittag
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