Straße der Toten
schließlich zur Leiter. Etwas Unförmiges glitt, fast so flüssig wie Wasser, die Sprossen hinab.
Sieben
Der Sheriff schaute aus seinem Büro auf die dunkler werdende Straße hinaus und verriegelte seine Tür.
Er setzte seinen neuen Hut auf, nahm, hinter sich das vergitterte Fenster, am Schreibtisch Platz, holte den Whisky und ein Glas heraus und schenkte sich einen kräftigen Schluck ein. Heute Abend würde er nicht durch den Ort gehen. Auf gar keinen Fall. Vielleicht niemals wieder. Er überlegte ernsthaft wegzuziehen. In den Westen von Texas zum Beispiel, oder nach Oklahoma. Er wollte raus aus Mud Creek, und zwar schnell.
Er schenkte sich noch einen ein. Und noch einen.
Verdammt. Er wurde nicht mal betrunken.
Acht
Jim und Mary Glass waren, gelinde gesagt, mehr als angenehm überrascht, von draußen die Stimme ihrer Enkelin zu hören. Immerhin war sie für tot erklärt worden.
Gerade noch hatten die beiden überlegt, wie sie es ihrer Tochter und ihrem Ehemann beibringen sollten. Ein Telegramm oder einen Brief zu schicken, kam ihnen nicht richtig vor; andererseits scheuten sie die Kutschfahrt nach Beaumont, um ihnen von Angesicht zu Angesicht mitzuteilen, dass ihr Kind nie bei ihnen angekommen war und dass sie keine Ahnung hatten, wo es war.
Sie fühlten sich dafür verantwortlich. Schließlich hatten sie vorgeschlagen, das kleine Mädchen solle sie doch mit der Postkutsche besuchen kommen, und nun war die Postkutsche mitsamt dem Mädchen einfach weg.
Bis jetzt.
Die Stimme eines Kindes, eindeutig Mignons Stimme, rief draußen vor ihrer Tür. Beinahe gleichzeitig stürmten sie los.
Mary erreichte sie zuerst und riss sie auf.
Und da stand, im letzten Licht der Dämmerung und mit unvorstellbar schmutzigen Kleidern, ihre Mignon. Sie hielt eine Puppe in der Hand, die kleine Faust um ihren Baumwollhals geschlossen.
»Oma«, sagte das kleine Mädchen mit einer Stimme so kalt und so hohl wie der erste Windhauch des Winters.
»Mit ihren Augen stimmt was nicht«, sagte Jim, als Mary ihre Arme nach dem Mädchen ausstreckte, und schon stürzte sich Mignon in diese ausgebreiteten Arme, und ihre Zähne gruben sich in den Hals der Großmutter, gerade so wie ein heißes Messer durch Butter fährt.
Mary schrie. Blut spritzte ihr aus dem Hals, und sie taumelte rückwärts gegen den Türrahmen, die Hand an ihren Hals gedrückt.
Das kleine Mädchen ließ von ihr ab, fuhr herum und ging auf Jim los. Mit beiden Armen umklammerte sie sein rechtes Bein, ihr Kopf schoss vor, zwischen seine Beine, und ihre Zähne gruben sich ihm in die Hoden, zerfetzten Stoff und Fleisch wie fadenscheiniges Segeltuch.
Jim versetzte ihr einen Hieb, sodass sie über den Boden schlitterte.
Mit einem Blick erfasste er, dass seine Frau tot war. Das Blut floss ihr in Strömen aus dem Hals. Die Augen waren ihr in den Kopf zurückgerollt.
Er stolperte zwei Schritte vorwärts, hielt sich an einem Hutständer fest und drehte sich zu seiner Enkeltochter um. Mignon kam katzenflink auf ihn zugerannt. Sie setzte einen Fuß auf sein Knie und kletterte an ihm hoch. Die Puppe ließ sie fallen. Ihre Hände flogen links und rechts an seinem Hals vorbei, und ihre Finger verschränkten sich in seinem Nacken.
»Opa kriegt ’n Kuss«, sagte sie, beugte sich vor, biss zu und riss ihm mit einem Ruck die Kehle heraus.
Jim brach zusammen. Im Liegen zog und zerrte er noch ein bisschen an ihr, doch es war zwecklos. Er hörte und spürte, wie ihre Zunge zwischen ihren Zähnen vor und zurück fuhr, während sie sein Blut aufleckte. Dann hörte er nichts mehr.
Als Mignon ihre Mahlzeit beendet hatte, war von Jims Gesicht nicht mehr viel übrig. Kurz darauf erhob er sich, ein Mann ohne Gesicht. Seine Zähne – sie sahen aus wie Zuckerwürfel, die in Tomatenmark steckten, mit Augen darüber – schlugen ein paar Mal aufeinander, Mund auf, Mund zu. Er hatte Hunger.
Mary erhob sich ebenfalls. Ihr Kopf hing schief, und ihr Kleid war auf einer Seite ganz rot.
Sie ging zur Tür hinaus, in Richtung Mud Creek, wo die Lebenden waren.
Jim folgte ihr.
Und Mignon hob ihre Puppe vom Boden auf und ging ihnen nach.
Opa, Oma und Enkeltochter gingen zum Abendessen in die Stadt.
Neun
Gerade war es dunkel geworden, da hörte Buela jemanden singen.
Nicht schön, obendrein gedämpft, und es kam von draußen. Trotzdem erkannte sie die Stimme.
Ihre Schwester Millie.
Buela ging mit einer Laterne in der Hand hinaus.
»Millie, mein Gott, bist du das?«
Keine Antwort. Nur der
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