Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
atemberaubend. Sie zählen zweifellos zu den großartigsten und kunstvollsten Häusern, die je aus Holz gebaut wurden, Häuser mit zwanzig Zimmern und allem schmückenden Drum und Dran aus dem Repertoire viktorianischer Baumeister – mit Kuppeln, Türmchen, Giebeln, Erkern und Veranden, auf denen man Rad fahren konnte. Über einigen Kuppeln wölbten sich wieder andere Kuppeln. Auf den Felsvorsprüngen zu beiden Seiten des Fort Mackinac drängte sich ein herrlicher Prachtbau neben dem anderen. Welch ein Vergnügen musste es sein, hier seine Kindheit zu verbringen, in diesen Häusern Verstecken zu spielen, ein Zimmer in einem Turm zu haben und auf dem Bett zu liegen und auf einen solchen See hinauszublicken! Oder mit dem Fahrrad zu kleinen Stränden und versteckten Buchten zu radeln, ohne dass einem auch nur ein Auto begegnet. Aber vor allem musste es herrlich sein, durch die Buchen- und Birkenwälder zu streifen, die drei Viertel der Insel bedecken.
Genau das wollte auch ich nun tun. Ich folgte einem der vielen befestigten Wege durch die Wälder und fühlte mich wie ein Siebenjähriger auf abenteuerlichen Streifzügen. Hinter jeder Biegung des Weges kam eine Überraschung von exotischem Zauber zum Vorschein – Skull Cave, eine Höhle, in der sich anno
1763 ein englischer Pelzhändler vor den Indianern versteckt haben soll; Fort Holmes, eine alte, britische Festung auf dem höchsten Punkt der Insel, neunundneunzig Meter über dem Lake Huron; und zwei moosbedeckte alte Friedhöfe mitten in der Landschaft, der eine katholisch, der andere protestantisch. Beide schienen für eine so kleine Insel viel zu groß, und auf beiden waren seit Generationen fast ausschließlich Angehörige derselben drei Familien beigesetzt worden – die Truscotts, die Gables, die Sawyers. Ohne einer Menschenseele zu begegnen oder ein Geräusch menschlichen Ursprungs zu vernehmen, wanderte ich wunschlos glücklich drei Stunden umher und hatte am Ende doch nur einen Bruchteil der Insel gesehen. Ich hätte es tagelang dort aushalten können.
Auf dem Weg zurück ins Städtchen kam ich am Grandhotel vorbei – die mit Abstand großartigste und zugleich selbstgefälligste derartige Einrichtung, die je an meinem Wege stand. Das weitläufige, weiße Holzgebäude, das übrigens die größte Veranda der Welt sein Eigen nennt, ist unbestritten todschick und exklusiv. Selbst jetzt, kurz vor Ende der Saison, kostete ein Einzelzimmer noch stolze 135 Dollar pro Nacht. Auf einem Hinweisschild stand zu lesen: GRANDHOTEL – IM HOTEL UND AUF DER HOTELEIGENEN STRASSE WIRD AUF KORREKTE KLEIDUNG WERT GELEGT. NACH 18.00 UHR HERREN NUR MIT JACKETT UND KRAWATTE, DAMEN BITTE NICHT IN HOSEN. Vermutlich die einzige Straße der Welt mit einer Kleiderordnung für harmlose Spaziergänger. Einem anderen Schild war zu entnehmen, dass jeder eine Gebühr zu entrichten hat, der sich dem Hotel nur zum Gaffen nähert. Im Ernst, das stand da. Damit dürfte der Ärger mit den Tagesausflüglern vorprogrammiert sein. Ich schlenderte möglichst unauffällig die Straße zum Hotel entlang und rechnete jeden Augenblick damit, vor einem Schild zu stehen, auf dem es hieß: »Leute in karierten Hosen oder weißen Schuhen müssen hier umkehren. Wer weitergeht, wird verhaftet.« Aber da standen keine Schilder mehr. Ich
hatte vor, meinen Kopf kurz durch die Vordertür des Hotels zu stecken, um einen flüchtigen Blick in die Welt der wirklich Reichen zu erhaschen. Doch im Eingang hielt ein Türsteher in Livree Wache, und ich musste den Rückzug antreten.
Ich nahm die Nachmittagsfähre zurück zum Festland und fuhr über die Mackinac Bridge in den Landesteil, den man in Michigan die Upper Peninsula, die Obere Halbinsel nennt. Vor dem Bau der Brücke 1957 war dieser Teil Michigans von seinem eigenen Staat so gut wie abgeschnitten. Die Abgeschiedenheit ist bis heute auf überwältigende Weise spürbar. Die 150 Meilen lange Halbinsel besteht überwiegend aus sandiger Einöde und zwängt sich zwischen drei der Großen Seen – zwischen Lake Superior, Lake Huron und Lake Michigan. Und wieder einmal war ich fast in Kanada. Sault Sainte Marie lag nicht viel mehr als einen Steinwurf weiter nördlich. Die Schleusen dieser Stadt verbinden den Lake Huron mit dem Lake Superior und sind die meistbefahrenen Schleusen der Welt. Auf dieser Wasserstraße werden mehr Bruttoregistertonnen befördert als auf Suez- und Panamakanal zusammen. Unglaublich, aber wahr.
Ich folgte der Route 2, die fast über ihre
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