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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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gesamte Länge parallel zum Nordufer des Lake Michigan verläuft. Es ist unmöglich, die gewaltigen Ausmaße der fünf Großen Seen Erie, Huron, Michigan, Superior und Ontario zu übertreiben. Sie erstrecken sich über 700 Meilen von ihrem nördlichsten bis zu ihrem südlichsten Punkt und über 900 Meilen von Ost nach West. Sie bedecken eine Fläche von 94 500 Quadratmeilen und sind damit fast exakt genauso groß wie das Vereinigte Königreich. Zusammen bilden sie das größte Süßwassergebiet der Erde.
    Weit draußen über dem See tobte ein Unwetter, doch hier an Land war es trocken. Etwa zwanzig Meilen vom Ufer entfernt lagen mehrere Inseln – Beaver Island, High Island, Whiskey Island, Hog Island und andere. High Island gehörte früher einer religiösen Sekte namens House of David. Ihre Mitglieder trugen allesamt Bärte und waren vortreffliche Baseballspieler, ob Sie’s
glauben oder nicht. In den zwanziger und dreißiger Jahren fuhren sie kreuz und quer durchs Land und traten gegen die Mannschaften all der Städte an, die an ihrem Weg lagen. Wenn ich mich recht entsinne, waren sie so ziemlich unschlagbar. Man nimmt an, High Island war eine Art Strafkolonie für die Sektenmitglieder, die den Ball zu oft ins Aus geschlagen oder sich eines ähnlich schweren Vergehens schuldig gemacht hatten. Es heißt, dass man nie wieder etwas von den Leuten hörte, die einmal dorthin verbannt worden waren. Wie die übrigen Inseln, mit Ausnahme von Beaver Island, ist High Island heute unbewohnt. Ich hatte plötzlich große Lust, mich in ein Boot zu setzen und sie mir alle anzusehen. Eigentlich übte jeder einzelne der Great Lakes eine Anziehungskraft auf mich aus, die ich mir selbst nicht erklären konnte. Ein so riesiger Binnensee hatte etwas Verführerisches. Ich war fasziniert von der Vorstellung, ein Boot zu besitzen und jahrelang von einem See zum anderen zu schippern, von Chicago nach Buffalo und von Milwaukee nach Montreal, und unterwegs Inseln, Buchten und Städtchen mit so sonderbaren Namen wie Deadman’s Point, Egg Harbor und Summer Island zu erkunden. Ich vermute, dass eine ganze Menge Leute genau das machen – sie kaufen sich ein Boot und verschwinden. Ich kann sie verstehen.
    Überall auf der Halbinsel fielen mir am Straßenrand Imbissstände mit der Aufschrift PASTIES auf. Die meisten waren geschlossen und mit Brettern vernagelt. Erst in Menominee, der letzten Stadt vor der Staatsgrenze von Wisconsin, kam ich an einem Stand vorbei, der noch geöffnet hatte. Neugierig, ob es hier tatsächlich echte Cornish pasties gab, stieg ich aus dem Wagen. Cornish pasties sind mit Fleisch gefüllte Gebäckstücke aus Blätterteig, eine Spezialität aus Cornwall. Die Tatsache, einen echten Engländer vor sich zu haben, brachte den Mann hinter der Theke ganz aus dem Häuschen. Seit dreißig Jahren stellte er pasties her, aber in seinem ganzen Leben hatte er weder einen echten Cornish pasty noch einen echten Engländer gesehen. Ich brachte
es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass ich eigentlich aus Iowa stamme, also praktisch aus einem Staat um die Ecke. Jemanden aus Iowa zu treffen, bringt so schnell niemanden aus dem Häuschen. Die pasties waren nach dem Originalrezept zubereitet. Ein Einwanderer aus Cornwall hatte es im neunzehnten Jahrhundert in diesen entlegenen Winkel Michigans gebracht, als er sich hier niederließ, um in den hiesigen Bergwerken zu arbeiten. »Hier oben, auf der Upper Peninsula, isst sie jeder«, erzählte mir der Mann. »Aber anderswo haben sie noch nie etwas von pasties gehört. In Wisconsin, auf der anderen Seite des Flusses, haben die Leute komischerweise keine Ahnung, was das ist.«
    Er überreichte mir den pasty in einer Papiertüte, und ich ging zurück zum Auto. Es schien wirklich ein echter Cornish pasty zu sein, nur dass er ungefähr so groß war wie ein Rugbyball. Er lag neben einer Plastikgabel und einigen Tütchen Ketchup auf einem Plastikteller, und ich biss erwartungsvoll hinein, denn, nebenbei gesagt: Ich hatte einen Bärenhunger.
    Es schmeckte scheußlich. Es war ein echter pasty, mit allem, was dazugehört, aber nachdem ich mich nun über einen Monat von amerikanischem Junkfood ernährt hatte, schmeckte er so fade wie aufgewärmte Pappe. »Wo ist das Fett?«, dachte ich. »Wo ist der Schmelzkäse? Und vor allem, wo ist der Guss aus Schokoladenmasse?« Was ich zwischen den Zähnen hatte, war nichts als Fleisch und Kartoffeln, und auf meiner Zunge lag der Geschmack naturbelassener

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