Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
die Stadt nach Einbruch der Dunkelheit und hatte Mühe, ein Zimmer zu finden. Obwohl es ein normaler Wochentag war, waren die meisten Unterkünfte belegt. Schließlich nahm ich ein Zimmer in einem völlig überteuerten Motel. Der Fernsehempfang war miserabel. Die Leute auf dem Bildschirm sahen aus, als bewegten sie sich vor einem Zerrspiegel. Während ihre Körper schon über die Mattscheibe liefen, folgten ihre Köpfe erst einen Moment später, als würden sie an einem Gummiband hinterhergezogen. Und dafür bezahlte ich nun 42 Dollar. Das Bett erinnerte an einen mit Bettwäsche bezogenen Billardtisch. Und an der Toilettenbrille fehlte der Papierstreifen mit der Aufschrift »Zu Ihrem Schutz desinfiziert«. Also verweigerte man mir auch noch die Ausübung meines täglichen Rituals, das Band mit den Worten »Hiermit erkläre ich diese Toilette für eröffnet« zu zerschneiden. Wenn man eine Weile allein unterwegs ist, misst man solchen Dingen enorme Bedeutung bei. Verdrießlich fuhr ich in die Stadt und setzte mich in ein billiges Restaurant, um zu Abend zu essen. Die Kellnerin ließ lange auf sich warten, bevor sie meine Bestellung aufnahm. Sie war auf ordinäre Weise aufgetakelt und hatte die störende Angewohnheit, alles zu wiederholen, was ich ihr sagte.
»Ich hätte gern das Hühnchensteak.«
»Sie hätten gern das Hühnchensteak?«
»Ja. Und dazu bitte Pommes frites.«
»Und dazu Pommes frites?«
»Ja. Und dazu hätte ich gern einen Salat mit Thousand-Island-Dressing.«
»Und dazu einen Salat mit Thousand-Island-Dressing?«
»Ja. Und eine Cola, bitte.«
»Und eine Cola?«
»Entschuldigen Sie, Miss, aber ich hatte heute einen schlechten Tag, und wenn Sie nicht sofort aufhören, alles zu wiederholen,
was ich sage, dann werde ich diese Ketchup-Flasche nehmen und den Inhalt über ihre Bluse spritzen.«
»Sie werden diese Ketchup-Flasche nehmen und den Inhalt über meine Bluse spritzen?«
Ich habe ihr nicht wirklich mit Ketchup gedroht – es war ja immerhin möglich, dass sie einen starken Freund hatte, der mich dann verprügeln würde; außerdem hat mir einmal eine Kellnerin erzählt, dass sie, jedes Mal wenn ein Gast ihr frech kommt, in die Küche geht und in sein Essen spuckt. Seitdem behandele ich Kellnerinnen immer mit ausgesuchter Höflichkeit und lasse nie Essen zurückgehen, auch nicht, wenn es noch nicht gar ist (dann spuckt nämlich der Koch hinein, wissen Sie) –, aber ich war in einer so schlechten Stimmung, dass ich meinen Kaugummi in den Aschenbecher warf, ohne ihn vorher in ein Stück Serviette zu wickeln, wie meine Mutter es mich gelehrt hat. Ich drückte ihn mit dem Daumen fest an, damit er nicht von selbst herausfallen würde, wenn sie den Aschenbecher leeren wollten. Sie mussten ihn schon mit einer Gabel herauskratzen. Danach fühlte ich mich besser.
Am nächsten Morgen fuhr ich von Sonora über den Highway 49 in Richtung Norden und fragte mich, was dieser Tag wohl bringen würde. Ich wollte die Sierra Nevada durchqueren und weiter nach Osten fahren, doch viele der Pässe waren noch gesperrt. Wie sich herausstellte, schlängelte sich der Highway 49 kurvenreich durch eine reizvolle Hügellandschaft. Kleine Wäldchen und Pferdekoppeln säumten die Straße, und gelegentlich kam ich an einem alten Bauernhaus vorbei. Kaum ein Anzeichen verriet jedoch, dass die Gegend landwirtschaftlich genutzt wurde. Die Ortschaften entlang der Straße – Tuttletown, Melones, Angel’s Camp – waren einst die Schauplätze des kalifornischen Goldrausches. Als 1848 ein Mann namens James Marshall im Sutter Creek unweit der Straße einen Klumpen Gold fand, drehten die Leute durch. Fast über Nacht strömten 40 000
Goldsucher in den Staat, und innerhalb von gut zehn Jahren, zwischen 1847 und 1860, stieg die Bevölkerung Kaliforniens von 15 000 auf annähernd 400 000 Einwohner. Einige der Städte wurden in dem Zustand jener Jahre konserviert – in dieser Hinsicht hat auch Sonora seine Qualitäten –, dennoch ist nicht viel geblieben, das noch von dem größten Goldrausch der Geschichte zeugt. Das mag vor allem daran liegen, dass die meisten Leute damals in Zelten gelebt haben, mit denen sie weiterzogen, sobald die Goldadern versiegt waren. Nun boten die Städtchen fast durchweg das gewohnte Bild – Tankstellen, Motels und Hamburger-Ketten. Es war Anywhere, USA.
In Jackson fand ich heraus, dass der Highway 88 durch die Berge geöffnet war – die erste offene Straße durch die Sierra Nevada seit fast 300
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