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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Serie seit Jahren nicht mehr gesehen, aber ich kann mich gut daran erinnern, dass Pa und Hoss und Little Joe und der mürrische Typ, dessen Namen ich vergessen habe, in einer fruchtbaren, üppigen Gegend lebten. Doch diese Landschaft bestand aus zementfarbenen Ebenen und kargen Hügeln, in denen ich kaum eine menschliche Behausung entdeckte. Vom Himmel bis zum Erdboden war alles grau. Und mit einer solchen Landschaft würde ich es die nächsten zwei Tage zu tun haben.
    Sich einen noch gottverlasseneren und freudloseren Staat als Nevada vorzustellen, ist nicht leicht. Auf einem Gebiet, so groß wie Großbritannien und Irland zusammen, leben lediglich 800 000 Menschen. Fast die Hälfte der Einwohner verteilt sich
auf die Städte Las Vegas und Reno. Der Rest des Staates steht zum großen Teil ganz einfach leer. Im gesamten Staat gibt es ganze siebzig Städte – zum Vergleich: auf den britischen Inseln sind es 40 000 –, und viele dieser Städte liegen fernab jeglicher Zivilisation. Eureka beispielsweise, eine Stadt mit 1200 Einwohnern in der Mitte des Staates, befindet sich in jeder Richtung 100 Meilen von der nächsten Stadt entfernt. Das Eureka County, ein Gebiet von mehreren Tausend Quadratmeilen, verfügt über nur drei Städte und eine Gesamtbevölkerung von weniger als 2500 Einwohnern.
    Eine Weile zuckelte ich durch die beängstigende Leere. Ab Fallon folgte ich einer Nebenstraße bis in eine Gegend, die auf der Karte den Namen Humboldt Sink trug. Dort fuhr ich dankbar auf die Interstate 80. Das war zwar feige, schien mir aber sicherer, denn seit ein paar Tagen gab der Wagen hin und wieder merkwürdige Geräusche von sich – so etwas wie ein schwaches poch-poch-oh-Gott-hilf-mir-poch-ich-sterbeoh-Gott-oh-Gott-poch-Geräusch. Ein Geräusch jedenfalls, das im Kapitel »Fehlerbeseitigung« des Chevette-Handbuchs nicht erwähnt wurde. Mir graute davor, in dieser staubigen Gegend eine Panne zu haben und tagelang in einem gottverlassenen Nest festzusitzen und auf Ersatzteile warten zu müssen, die mit dem wöchentlichen Greyhound-Bus aus Reno geliefert würden. Der Highway 50, die nächstgelegene Alternativroute zur Interstate, hätte einen Umweg von 150 Meilen über Utah bedeutet. Ich wollte eine nördlichere Route durch Montana und Wyoming – das Land des »Big Sky« – nehmen. Also fuhr ich mit einiger Erleichterung auf die Interstate, die allerdings ebenfalls erstaunlich leer war – im Allgemeinen sah ich gerade ein Auto weit vor mir und ein anderes weit hinter mir –, wenn man bedenkt, dass es sich um die Hauptverkehrsader von der Ost- an die Westküste Amerikas handelte. Mit einem entsprechend großen Benzintank und einer ebenso großen Blase könnte man tatsächlich die ganze Strecke von New
York bis nach San Francisco durchfahren, ohne auch nur einmal anzuhalten.
    In Winnemucca legte ich eine Pause ein. Ich ließ den Wagen volltanken, trank eine Tasse Kaffee und rief meine Mutter an, um ihr mitzuteilen, dass ich noch am Leben war und noch genügend saubere Unterwäsche hatte – eine der ständigen Sorgen meiner Mutter. Nachdem ich sie in dieser Hinsicht beruhigt hatte, versicherte sie mir, ihr Geld nicht leichtfertig dem International Guppy Institute oder einer ähnlichen Einrichtung vermacht zu haben (ich hätte das gern überprüft!). So konnte jeder von uns leichten Herzens den Rest des Tages verbringen.
    In der Telefonzelle hing ein Plakat mit dem Foto einer jungen Frau. Darüber stand: »Haben Sie dieses Mädchen gesehen?« Sie war attraktiv und wirkte jugendlich und glücklich. Auf dem Plakat hieß es, sie wäre neunzehn Jahre alt und hätte sich kurz vor Weihnachten auf der Heimreise von Boston nach San Francisco befunden, als sie verschwand. Unterwegs hatte sie ihre Eltern aus Winnemucca angerufen und ihnen mitgeteilt, dass sie am Nachmittag des folgenden Tages bei ihnen eintreffen würde. Seitdem hatte niemand mehr etwas von ihr gehört. Mit ziemlicher Sicherheit lag sie irgendwo da draußen tot in der großen, leeren Wüste. Einen Mord zu begehen ist in Amerika entsetzlich einfach. Man bringt einen Fremden um, lässt die Leiche irgendwo liegen, wo sie nie jemand findet und ist schon 2000 Meilen weit weg, bevor das Opfer auch nur vermisst wird. Schätzungen zufolge laufen im ganzen Land Tag für Tag durchschnittlich zwölf bis fünfzehn Serienmörder frei herum. Sie ziehen von einem Ort zum anderen, greifen sich wahllos ihre Opfer und verschwinden wieder. Sie hinterlassen kaum Spuren und verraten

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