Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Kalifornien, in jenen Staat, in dem mein Traumbaum stand. Doch wir besuchten nur Orte wie Disneyland, den Hollywood Boulevard und Beverly Hills. (Dad war zu knauserig, eine Karte zu kaufen, auf der die Häuser der Filmstars eingezeichnet waren, daher fuhren wir nur planlos durch die Gegend und spekulierten.) Manchmal fragte ich beim Frühstück, ob wir nicht zu dem Baum fahren könnten, durch den eine Straße führt, aber alle reagierten so ablehnend auf meinen Vorschlag – es wäre viel zu weit weg, viel zu langweilig, viel zu teuer –, dass ich es bald aufgab und nicht mehr davon anfing. Ich habe tatsächlich nie wieder darüber gesprochen, auch wenn ich meinen Traumbaum immer im Hinterkopf behielt. Ihn zu sehen wurde zu einem der fünf großen unerfüllten Wunschträume meiner Kindheit. (Die anderen vier waren die Fähigkeit, die Zeit anhalten zu können, mit Röntgenaugen ausgerüstet zu sein, meinen Bruder hypnotisieren zu können, um ihn dann zu meinem Sklaven zu machen, und Sally Ann Summerfield ohne einen Fetzen Stoff am Leib vor mir zu sehen.)
Wie nicht anders zu erwarten, erfüllte sich keiner dieser Träume.
(Was wohl auch sein Gutes hat. Sally Ann Summerfield ist inzwischen aufgegangen wie ein Hefekuchen. Vor zwei Jahren erschien sie auf einem Klassentreffen und sah aus wie ein kleines Luftschiff.) Aber nun sollte zumindest einer von ihnen Wirklichkeit werden. So war ich also ziemlich aufgekratzt, als ich mein Gepäck in den Kofferraum warf und auf den Highway 63 in Richtung Sequoia National Park bog.
Ich hatte in Tulare übernachtet. Die Kleinstadt liegt im Herzen des San Joaquin Valley, dem fruchtbarsten und ertragreichsten Farmland der Welt. Im San Joaquin Valley werden über 200 verschiedene Getreidesorten angebaut. An jenem Morgen hatte man in den Regionalnachrichten im Fernsehen berichtet, dass das Tulare County im Jahr zuvor Einkünfte in Höhe von 1,6 Milliarden Dollar aus der Landwirtschaft erzielt hatte – das entspricht ungefähr dem Jahresumsatz von Austin Rover. Dennoch lag der Bezirk damit nur an zweiter Stelle innerhalb des Staates. Das benachbarte Fresno County war noch ertragreicher, was man der Landschaft jedoch nicht ansah. Das Tal war so eben wie ein Tennisplatz und erstreckte sich braun, staubig und reizlos meilenweit in alle Himmelsrichtungen. Wie ein schmutziges Fenster vernebelte ein Dunstschleier den Horizont. Vielleicht lag es an der Jahreszeit oder an der Trockenheit, die auf dem Landesinneren von Kalifornien lastete, aber das Land wirkte überhaupt nicht fruchtbar. Ebenso reizlos wie die Landschaft waren die Städte in der Ebene. Sie unterschieden sich durch nichts von anderen Städten und machten weder einen blühenden noch einen modernen oder interessanten Eindruck. Wären da nicht die Orangen gewesen, die so groß wie Pampelmusen an den Bäumen der Vorgärten hingen, hätte ich ebenso gut in Indiana oder Illinois oder sonst wo sein können. Das überraschte mich. Als wir vor Jahren mit der ganzen Familie nach Kalifornien fuhren, kam es mir vor wie eine Reise ins nächste Jahrzehnt. Alles wirkte so gepflegt und modern. Dinge, die in Iowa noch als neue Errungenschaften gefeiert wurden – Einkaufszentren,
Drive-in-Banken, McDonald’s-Restaurants, Minigolfplätze, Kinder auf Skateboards –, waren in Kalifornien längst alltäglich. Nun schien all das abgenutzt und alt. Der Rest des Landes hatte aufgeholt. Das Kalifornien von 1988 war Iowa um keinen Deut mehr voraus. Abgesehen vom Smog. Und von den Stränden. Und von Orangen in den Vorgärten. Und von Bäumen, durch die man hindurchfahren konnte.
Bei Visalia fuhr ich auf den Highway 198 und folgte ihm durch duftende Zitrushaine, das schöne Ufer des Lake Kaweah entlang und schließlich die Ausläufer der Sierra Nevada hinauf. Gleich hinter Three Rivers lag der Eingang des Parks. Ich zahlte die Eintrittsgebühr von 5 Dollar und erhielt eine Broschüre mit Einzelheiten über die Sehenswürdigkeiten im Park. Ich blätterte flüchtig durch und suchte nach einem Foto von der Straße, die durch den Baum führt. Doch die Broschüre enthielt keine Bilder, nur Text und eine Übersichtskarte mit vielen verheißungsvollen Namen: Avalanche Pass, Mist Falls, Farewell Gap, Onion Valley, Giant Forest. Ich nahm Kurs auf den Giant Forest.
Der Sequoia National Park grenzt an den Kings Canyon National Park. Eigentlich bilden beide einen einzigen Nationalpark, der mit seinen siebzig Meilen Länge und einer Breite von dreißig Meilen von
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