Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Meilen. Ich nutzte meine Chance. Ich hatte befürchtet, erst über den vorletzten Pass, den berüchtigten Donner Pass, über die Berge zu kommen. 1846 saß eine Gruppe von Siedlern während eines Schneesturms wochenlang auf dem Donner Pass fest. Sie konnten nur überleben, weil sie sich von ihren Toten ernährt hatten, was damals großes Aufsehen erregte. Der Anführer der Gruppe hieß Donner. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, aber ich wette, er musste derbe Sprüche über sich ergehen lassen, wann immer er danach ein Restaurant betrat. Wie dem auch sei, sein Name steht auf allen Landkarten. Durch den Donner Pass führte auch die erste transkontinentale Eisenbahn, die Southern Pacific, und der erste transkontinentale Highway, die alte Route 40, der Lincoln Highway, auf der 3000 Meilen langen Strecke von New York nach San Francisco. Wie die Route 66 im Süden wurde auch die Route 40 erbarmungslos aufgerissen und in einen öden Interstate Highway verwandelt, und ich war froh, eine offene Nebenstrecke durch die Berge gefunden zu haben.
Die Fahrt war sehr angenehm. Ich fuhr durch Kiefernwälder, die manchmal für längere Zeit den Blick auf menschenleere Täler freigaben, überquerte den Mokelumne Peak (2844 Meter)
und steuerte auf Lake Tahoe und Carson City zu. Die Straße führte steil bergauf, so dass es fast den ganzen Nachmittag dauerte, bis die rund hundert Meilen bis zur Grenze von Nevada hinter mir lagen. In der Nähe von Woodfords erreichte ich den Toiyabe National Forest oder was von ihm noch übrig war. Meile für Meile sah ich nichts als verkohltes Land, mit Baumstümpfen übersäte Berghänge aus toter Erde. Hin und wieder kam ich an einem unbeschadeten Haus vorbei, um das man eine Feuerschneise gegraben hatte. In diesem Meer von schwarzen Stümpfen war ein Haus mit einer Schaukel und einem Plantschbecken ein seltsamer Anblick. Vor etwa einem Jahr mussten sich seine Bewohner noch für die glücklichsten Menschen auf Erden gehalten haben, weil sie in den Wäldern dieser Berge leben konnten, umgeben von Schatten spendenden, duftenden Kiefern. Und nun lebten sie in einer Mondlandschaft. Bald würde man damit beginnen, den Wald wieder aufzuforsten, und sie könnten für den Rest ihres Lebens zusehen, wie er Zentimeter für Zentimeter wächst.
Eine Verwüstung von solchem Ausmaß hatte ich noch nicht gesehen. Und ich konnte mich nicht erinnern, von diesem Waldbrand gehört zu haben. Aber so ist das in Amerika. Das Land ist so groß, dass es Katastrophen einfach absorbiert. Sie werden von der Weite geschluckt. Immer wieder hatte ich auf dieser Reise Berichte über Unglücksfälle gesehen, die sich anderswo als grauenhafte Tragödien in den Schlagzeilen wiedergefunden hätten – bei einer Überschwemmung im Süden kamen zwölf Menschen ums Leben, in Texas starben zehn Menschen, als das Dach eines Restaurants einstürzte, im Osten forderte ein Schneesturm zweiundzwanzig Menschenleben –, und jeder dieser Berichte wurde kurz und knapp als unterhaltsame Abwechslung zwischen Werbespots für Hämorrhoidensalben und Hüttenkäse gesendet. Zum einen liegt das sicherlich an der forsch-fröhlichen Oberflächlichkeit, die die Nachrichtensprecher lokaler Fernsehsender an den Tag legen, vor allem aber
liegt es an der Weite des Landes. In Kalifornien schenkt man Katastrophenmeldungen aus Florida dieselbe Aufmerksamkeit, wie man sie in Großbritannien Katastrophenmeldungen aus Italien entgegenbringt – sie haben einen morbiden Unterhaltungswert und sind schnell vergessen. Die Tragödien sind zu weit entfernt, um persönliche Betroffenheit auszulösen.
Zehn Meilen südlich des Lake Tahoe passierte ich die Staatsgrenze von Nevada. Las Vegas steckte mir noch so sehr in den Knochen, dass ich keine Lust verspürte, mich in den nächsten Sündenpfuhl zu stürzen. Später erfuhr ich jedoch, dass Tahoe ausgesprochen hübsch sein soll, nicht zu vergleichen mit Las Vegas. Das werde ich nun wohl nicht mehr herausfinden. Dafür habe ich entdeckt, dass Carson City so ungefähr die nichtssagendste Kleinstadt ist, in die ich je meinen Fuß gesetzt habe. Es ist die Hauptstadt von Nevada, besteht aber aus nicht viel mehr als aus Pizza Huts, Tankstellen und schäbigen Kasinos.
Ich verließ Carson City über die US 50 und fuhr, vorbei an Virginia City, in Richtung Silver Springs. Nun befand ich mich mehr oder weniger auf dem Teil der Landkarte, der im Vorspann von Bonanza immer in Flammen aufgeht. Sie entsinnen sich? Ich habe die
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