Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Gegend zu wirbeln, oder man von der Hupe eines entgegenkommenden Trucks aufgeschreckt wird, weil man sich auf dessen Fahrbahn verirrt hat, erst dann landet man wieder auf dem Boden der Wirklichkeit und begreift, dass man fortan den Fahrersitz besser nicht mehr verlässt, um das Auto nach etwas Essbarem zu durchsuchen.
Jedenfalls lässt einem eine solche Autofahrt Zeit zum Nachdenken. Mir gingen eine Menge Fragen durch den Kopf. Zum Beispiel: Wie kommt es nur, dass die Bäume entlang der Highways nicht wachsen? Einige mussten mittlerweile vierzig Jahre dort stehen, waren aber noch immer nicht größer als zwei Meter und trugen ganze vierzehn Blätter. Es handelt sich um eine besonders kleinwüchsige Sorte, meinen Sie? Eine andere Frage: Warum sind die Leute bei General Foods noch nicht auf die Idee gekommen, Cornflakes-Packungen mit einer Ausschüttvorrichtung auf den Markt zu bringen? Lachen die sich vielleicht bei der Vorstellung ins Fäustchen, wie beim Umfüllen in eine Schüssel grundsätzlich die Hälfte auf den Boden kippt? Oder: Warum bleiben in einem Waschbecken immer Haare und Fusseln zurück, egal, wie lange man es scheuert und das Wasser laufen lässt? Und schließlich: Was bedeutet den Spaniern eigentlich der Flamenco?
Um nicht vollends den Verstand zu verlieren, schaltete ich das Radio ein. Doch dann erinnerte ich mich, dass amerikanische Radioprogramme für Leute gemacht sind, die den Verstand bereits verloren haben. Als Erstes hörte ich einen Werbespot für Folger’s Coffee. Ein Sprecher sagte in vertraulichem Flüsterton: »Wir sind in das weltberühmte Napa Valley Restaurant in Kalifornien gegangen und haben den Gästen statt der sonst in diesem Restaurant üblichen Marke heimlich Folger’s Instantkaffee serviert. Über versteckte Mikrofone hörten wir ihre Reaktionen.« Es folgten Worte des Lobes für den Kaffee: »Hey, dieser Kaffee ist fantastisch!« »Noch nie habe ich einen so aromatischen Kaffee getrunken!« »Dieser Kaffee ist so köstlich, dass ich es kaum aushalten kann!« und so weiter. Dann mischte sich der Sprecher unter die Gäste und klärte sie darüber auf, dass sie soeben Folger’s Coffee getrunken hatten, woraufhin alles in glückliches Gelächter ausbrach, dankbar für diese Lektion über die Vorzüge erstklassigen Instantkaffees. Ich suchte schnell einen anderen Sender. Jetzt sagte eine Stimme:
»In sechzig Sekunden setzen wir unsere Diskussion über die Männlichkeit fort.« Ich drehte das Rädchen am Radio weiter. Eine Country-Sängerin trällerte:
Seine Hände sind winzig
Seine Arme sind kurz
Doch ich lehn’ mich an ihn
Zum Wohl meines Kindes.
Und wieder drehte ich am Rädchen. Eine Stimme verkündete: »Dieser Teil der Nachrichten wird präsentiert vom Airport Barber Shop, Biloxi.« Anschließend wurde ein Werbespot besagten Herrenfriseurs gesendet, dann folgten dreißig Sekunden lang Nachrichten. Sie beschäftigten sich allesamt mit Autounfällen, Bränden und Schießereien, die sich innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden in Biloxi ereignet hatten. Es gab nicht einen Hinweis darauf, dass außerhalb von Biloxi eine größere, noch brutalere Welt existieren könnte. Nun sendete man abermals den Werbespot des Airport Barber Shop, denn es konnte ja sein, dass man ihn vor lauter Verblödung während der vergangenen dreißig Sekunden vergessen hatte. Ich schaltete das Radio ab.
Bei Litchfield verließ ich die Interstate und schwor mir, nie wieder einen amerikanischen Interstate Highway zu befahren, solange es sich irgendwie vermeiden ließ. Über den Illinois Highway 127 steuerte ich in Richtung Süden und nahm Kurs auf Murphysboro und Carbondale. Beinahe schlagartig zeigte sich das Leben wieder von einer interessanteren Seite. Farmen, Häuser und kleine Städtchen sorgten für wohltuende Abwechslung. Ich fuhr noch immer mit einer Geschwindigkeit von fünfundfünfzig Meilen pro Stunde, doch nun schien ich förmlich über die Straße zu fliegen. Die Landschaft sauste an mir vorbei und war viel hügeliger und vielfältiger als vorher. Das Laub der Bäume nahm ich verschwommen als dunkelgrüne Flecken
wahr. Schilder tauchten auf und verschwanden wieder: TEE PEE MINI MART, B-RITE FOOD STORE, BETTY’S BEAUTY BOX, SAVA-LOT FOOD CENTER, PINCKNEYVILLE COON CLUB, BALD KNOB TRAILER COURT, DAIRY DELITE, ALL U CAN EAT. Zwischen diesen heiligen Stätten der Legasthenie und des freien Unternehmertums breiteten sich lichte Hänge aus, an denen sich Farmen breitmachten. Vor fast
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