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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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eigentlich nicht wundern dürfen. Schließlich besteht die Bevölkerung von Mississippi zu fünfunddreißig Prozent aus Schwarzen. In Alabama, Georgia und South Carolina sind es nicht viel weniger. In einigen Verwaltungsbezirken im Süden leben viermal mehr Schwarze als Weiße. Noch bis vor fünfundzwanzig Jahren hatte in vielen dieser Bezirke nicht ein schwarzer Bürger das Wahlrecht. Bei all der Armut ringsum erlebte ich Columbus als angenehme Überraschung. Die Heimatstadt von Tennessee Williams mit ihren rund 30 000 Einwohnern entpuppte sich als wunderschönes kleines Städtchen. Im Bürgerkrieg
war Columbus für kurze Zeit die Hauptstadt des Staates gewesen, und noch immer standen einige stattliche Ante-Bellum-Häuser entlang der schattigen Straße, die vom Highway in die Stadt führte. Doch das eigentliche Juwel der Stadt war ihre Downtown. Hier schien sich etwa seit 1955 kaum etwas verändert zu haben. Vor Crenshaw’s Barber Shop drehte sich ein Mast mit einem alten Werbeschild, und an der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein echtes Billigkaufhaus mit Namen McCrory’s. An der Ecke beherbergte ein imposantes Bauwerk mit einer riesigen, über dem Gehsteig hängenden Uhr die Bank of Mississippi. Auch das Bezirksgericht, das Rathaus und das Postamt waren in prächtigen Gebäuden untergebracht, wenn auch ihre Größe den Maßstäben einer Kleinstadt entsprach. Die Menschen wirkten wohlhabend. Als Erstes begegnete mir ein Schwarzer in einem dreiteiligen Anzug. Er trug ein Wall Street Journal unterm Arm und war offensichtlich ein gebildeter Mann. Die Stadt machte einen äußerst angenehmen und ermutigenden Eindruck. Columbus war eine Stadt ersten Ranges. Man stelle sich Pellas schönen Platz in Columbus’ Mitte vor, und mein langersehntes Amalgam wäre fast perfekt. Mir wurde langsam klar, dass ich die Stadt meiner Träume nicht an einem Ort finden würde. Ich würde sie Stück für Stück zusammentragen müssen – ein Gerichtsgebäude von da, eine Feuerwache von dort. Und hier hatte ich nun gleich mehrere Teile des Puzzles gefunden.
    In einem Hotel an der Main Street trank ich eine Tasse Kaffee und kaufte eine Ausgabe des Commercial Dispatch – die hiesige Tageszeitung (»Mississippis fortschrittlichste Zeitung«). Es war ein altmodisches Blatt. Auf Seite eins zog sich über acht Spalten die Schlagzeile »Geschäftsleute aus Taiwan zu Besuch in der Region Golden Triangle«. Darunter stand eine Reihe von einspaltigen Unterüberschriften zum selben Thema, alle in unterschiedlichen Größen und Schriftarten:
    Besucher erwägen
Investitionen

    TEIL EINER
HANDELSDELEGATION

    Geschäftsleute werden
am Donnerstag
im Golden Triangle
erwartet

    Funktionäre
koordinieren
Besuch
    Alle Berichte auf den folgenden Seiten erweckten den Eindruck einer von Umsicht und Mitgefühl geleiteten Stadt: »Sozialarbeiter vom Trinity Place reichen älteren Menschen eine helfende Hand«, »Gespräche über Landgewinnung bei Lamar im Gange«, »Haushaltsetat für Pickens School verabschiedet«. Ich las das Polizeiregister. »Innerhalb der vergangenen vierundzwanzig Stunden verzeichnete das Columbus Police Department insgesamt vierunddreißig Vorfälle«, hieß es darin. Was für eine wundervolle Stadt! Die Polizei hatte es hier nicht mit Verbrechen, sondern mit Vorfällen zu tun! Laut Polizeiregister bestand der aufregendste dieser Vorfälle in der Verhaftung eines Mannes, der am Steuer eines Wagens erwischt worden war, obwohl man ihm den Führerschein entzogen hatte. An anderer Stelle stieß ich auf die Notiz, dass innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden sechs Menschen gestorben und drei Geburten registriert worden waren. Augenblicklich erfasste mich eine tiefe Zuneigung für die Stadt und den Commercial Dispatch, den ich in Gedanken in Amalgam Commercial Dispatch umbenannte.
    Hier könnte ich leben, dachte ich. Doch dann kam die Kellnerin
an meinen Tisch und sagte »Yew honestly a breast menu, honey? « , und ich sah ein, dass ich hier fehl am Platze war. Ich verstand nicht ein Wort von dem, was diese Leute zu mir sprachen. Die Kellnerin hätte ebenso gut Holländisch mit mir reden können. Nach langem Gestikulieren mit Hilfe von Messer und Gabel stellte sich heraus, dass sie sich lediglich erkundigt hatte, ob ich die Frühstückskarte zu sehen wünschte ( Do you want to see a breakfast menu, honey?). Tatsächlich wünschte ich die Mittagskarte zu sehen, doch statt den Nachmittag damit zu verbringen, ihr mein Anliegen

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