Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
eine einfache Küche. Trotzdem wirkte es komfortabel und behaglich. Verglichen mit den meisten Hütten, die ich unterwegs am Highway gesehen hatte, machte dieses Haus einen wesentlich ansehnlicheren Eindruck. Auf einem Stuhl saß eine nette Dame mit stämmigen Armen und beantwortete die Fragen der Besucher. Sie musste wohl an die tausendmal am Tag dieselben Fragen über sich ergehen lassen, doch es schien ihr nichts auszumachen. Von allen Anwesenden – etwa ein Dutzend an der Zahl – war ich der einzige unter sechzig Jahren. Ob das daran lag, dass Elvis am Ende seiner Karriere so klapprig war, dass seine Fangemeinde nur noch aus alten Leuten bestand, oder daran, dass nur alte Leute Zeit und Lust haben, sich die Häuser toter Berühmtheiten anzusehen, kann ich nicht sagen.
Hinter dem Haus führte ein Pfad zu einem Souvenirladen. Dort gab es Schallplatten von Elvis, Elvis-Plaketten, Elvis-Teller, Elvis-Poster. Wo man auch hinsah, überall blickte man in das strahlende, knabenhafte Gesicht von Elvis. Ich kaufte zwei
Postkarten und sechs Heftchen Streichhölzer, die ich – wie ich später mit sonderbarer Erleichterung feststellte – irgendwo verloren haben muss. An der Tür lag ein Gästebuch aus. Alle Besucher kamen aus Städten mit so entlegen klingenden Namen wie Coleslaw, Indiana; Dead Squaw, Oklahoma; Frigid, Minnesota; Dry Heaves, New Mexico; Colostomy, Montana. Eine Spalte des Gästebuchs war für Bemerkungen vorgesehen. Dort stand zu lesen: »Hübsch«, »Wirklich hübsch«, »Sehr hübsch«, »Hübsch«. Welch eine Wortgewandtheit! Ich blätterte ein paar Seiten zurück. Ein Besucher, der die Funktion dieser Spalte irgendwie missverstanden haben musste, hatte geschrieben »Besuch«, woraufhin alle weiteren Besucher auf dieser und der gegenüberliegenden Seite ebenfalls »Besuch« schrieben, oder »Zweiter Besuch«, bis jemand die nächste Seite aufgeschlagen und die Dinge wieder ins rechte Lot gebracht hatte.
Das Haus von Elvis Presley befindet sich im Elvis Presley Park am Elvis Presley Drive, unweit des Elvis Presley Memorial Highway, woraus sich entnehmen lässt, dass Tupelo voller Stolz seines berühmtesten Sohnes gedenkt. Doch die Stadt hat darauf verzichtet, dessen Ruhm auf zweifelhafte Weise für sich auszuschlachten – ein Umstand, der unsere Anerkennung verdient. Hier gab es keine Ansammlungen von Andenkenläden, Wachsfigurenkabinetten und Souvenirsupermärkten, die alle versuchten, so viel Profit wie möglich aus Presleys allmählich verblassendem Ruhm zu schlagen. Hier stand nur ein hübsches, kleines Haus inmitten eines schattigen Parks, und ich war froh, dort gewesen zu sein.
Von Tupelo fuhr ich direkt nach Süden in Richtung Columbus, auf die aufsteigende Sonne zu. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Baumwollfelder. Sie wirkten dunkel und struppig, doch auf jeder Pflanze schaukelte ein Flaum aus reiner Baumwolle. Für jemandem aus dem Mittleren Westen, wo sich die Kornfelder bis zum Horizont erstrecken, waren diese Felder überraschend klein – gerade so groß wie ein paar Gemüsebeete.
Auch mehr und mehr armselige Hütten standen entlang der Straße und säumten den Highway schließlich in einer fast ununterbrochenen Linie. Es war, als führe man durch den größten Slum der Welt. Dies waren wirkliche Elendshütten, teilweise unbewohnbar, mit abgesackten Dächern und Wänden, die aussahen, als hätte man sie mit Kanonen beschossen. Im Vorbeifahren bemerkte ich, wie hier und da jemand in einer Tür lauerte und mir mit den Blicken folgte. Auch viele Läden sah ich am Straßenrand, mehr als man bei einer so armen Bevölkerung erwarten würde. Vor jedem Laden warb ein großes Schild für ein bunt gemischtes Warenangebot: BENZIN, FEUERWERKSKÖRPER, BRATHÄHNCHEN, LEBENDKÖDER. Ich fragte mich, wie hungrig ich wohl sein müsste, um bei jemandem Brathähnchen zu essen, der nebenbei mit lebenden Ködern handelt. An der Vorderseite jedes Ladens stand ein Coca-Cola-Automat und eine Benzinzapfsäule. Fast immer lagen rostende Autos und Schrott kreuz und quer über das Grundstück verteilt. Der Grad des Verfalls ließ keine Rückschlüsse darüber zu, ob ein Laden schon pleite war oder noch nicht.
Gelegentlich kam ich durch eine staubige, kleine Stadt, in der Scharen von Schwarzen vor den Geschäften und Tankstellen herumlungerten und damit beschäftigt waren, nichts zu tun. Die vielen Schwarzen überall – sie waren der markanteste Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden. Das hätte mich
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