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Straub, Peter

Straub, Peter

Titel: Straub, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fremde Frau
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Handgelenk. Wenig originell fragte ich: »Was ist passiert? «
    »Anglais «, sagte einer der stehenden Männer. Er blies den Atem heftig zwischen den Lippen hervor: p-h-h-h-h. Sie mu r melten nickend miteinander.
    Der Mann, der mein Handgelenk hielt, sah mir ins Gesicht und sagte: »Ruhig, Monsieur. Sie hatten einen U nf all. Bew e gen Sie sich nicht. Ich bin Arzt. « Er sah auf dem durchweic h ten Rasen auf absurde Weise fehl am Platze aus, dennoch ve r strömte er eine professionelle Kompetenz und die kühle väte r liche Aura zahlloser Wartezimmer und Krankenhausbetten. Ich empfand Dankbarkeit. Sein Gesicht, das sich um einen schwarzen Schnurrbart herum gruppierte, schien einen Auge n blick nach innen zu blicken; er ließ mein Handgelenk sinken. »Haben Sie Schmerzen? «
    Ich bewegte die Beine. Sie waren kalt und nass , die Hose klebte wie ein Lappen daran. Ich hob den Kopf und verspürte ein leichtes Stechen an der Schädelbasis. »Ich glaube nicht. Geben Sie mir die Hand «, sagte ich. »Ich möchte aufstehen. « Der Arzt hielt mir die Hand hin – die überhaupt nicht riesig war, wie ich bemerkte –, und ich ergriff sie und zog mich in die Höhe. Die Männer wichen zurück und redeten aufeinander ein. Der Arzt scheuchte sie mit Handbewegungen weg. Ich sah mich um und erblickte einen Grünstreifen, der nur sanft a n steigend zur Straße führte; oben stand ein rotes Auto voll mit gaffenden Kindern. Die Fahrertür war offen, die Lichter des Armaturenbretts zeigten ein Durcheinander von Papieren auf dem Boden, wo die Kinder standen. Das Auto des Arztes: Wieder überkam mich Dankbarkeit, weil er hier war. Dann drehte ich mich um und spürte, wie mir der Schock den Atem raubte.
    Seine Stimme sagte: »Ich habe bereits die Polizei gerufen, Monsieur, und den Krankenwagen «, aber ich hatte nur Augen für das Auto, das wie eine ungeschickte Schildkröte auf dem Rücken lag, eine Tür halb offen. Ich ging darauf zu. Zuerst sah ich die zu einem Spinnwebmuster zersplitterte Scheibe, dann den blonden, rotverschmierten Kopf auf dem Sitz, den unn a türlich verdrehten Arm. Hinter mir heulten Sirenen.
     
    Zwei Stunden später durfte ich das Polizeirevier verlassen und wurde ins Krankenhaus gefahren. Es sah aus wie Scotland Yard, ein riesiges, angsteinflößendes Bauwerk. Ich zitterte, als ich die Treppe hinaufging: Ich hatte immer noch das nasse Hemd und die durchweichten Hosen an, und ich spürte ein kaltes Kratzen im Hals. Am Ende eines langen, dunklen Flurs, wo Glühbirnen orangefarbenes Licht über die Decke ergossen, teilte mir die Schwester vom Dienst mit, dass ich die Frau nicht sehen konnte. Ja, sie sei verletzt, sagte sie mir mit ihrem Schulmädchenenglisch, aber man rechne damit, dass sie durchkommen würde. Einzelheiten konnte sie mir nicht sagen. Ja, sie sei bewusstlos . Der zuständige Arzt war Dr. La Porte. Ja, ihn könne ich sprechen. Sie betrachtete noch einmal meine heruntergekommene Kleidung und drückte einen Knopf an ihrem Schreibtisch. Ich ging zu einem Stuhl an der Wand und wartete.
    Ich nehme an, das nächste geschah nur deshalb, weil ich, immer noch durcheinander von dem Unfall und den Schwi e rigkeiten mit der Polizei, dummerweise davon ausging, der zuständige Arzt wäre derselbe, der sich im grauen Regen über mich gebeugt und mir den Puls gefühlt hatte. Als ein Neger im weißen Kittel den Flur entlang kam und sich flüsternd mit der Schwester unterhielt, achtete ich gar nicht auf ihn. Und als er an meine Seite kam, da sah ich ihn einfach an – sah durch ihn hindurch – und fragte mich, wann der kleine Mann mi t dem Schnurrbart kommen würde. Den Neger nahm ic h fast übe r haupt nicht wahr. »Dr. La Porte «, sagte er. E r s treckte nicht die Hand aus. »Sie waren der Beifahrer in dem Auto? « Seine Stimme war die zweite Überraschung: Mississippi. Hart und würdevoll. Als ich aufsprang, gli tz erte sein Gesicht wie eine Schnitzerei.
    Er bestätigte, was die Schwester gesagt hatte: die Frau b e fand sich medizinisch gesehen in einem kritischen Zustand, sie hatte eine Gehirnerschütterung und einen Schädelbruch, aber er rechnete damit, dass sie binnen vierundzwanzig Stunden das Bewusstsein wiedererlangen würde. Ihr rechter Arm war g e brochen, ebenso drei Rippen. »Aber sie wird durchkommen «, sagte er. »Und was Sie anbelangt, so haben Sie großes Glück gehabt. Sie sind zur Tür hinausgeschleudert worden und land e ten wie ein großer Marshmallow auf dem Gras. « Touche, Do k tor, dachte

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