Straub, Peter
ohne viel zu sprechen. Ich fragte mich, wie das Theater, das so sehr von dem weißen Stein, von Ruhe und Beschaulichkeit geprägt war, wie die Friese, welche in Paneelen an den verwitterten Wänden des Theaters angebracht worden waren, auf jemanden wie Magr u der, mit seinem seltsam gespaltenen Charakter, wirken musste . Seine Bemerkungen gaben mir wenig Hinweise auf seine R e aktion, denn es handelte sich nur um aus einem Wort best e hende, typisch amerikanische Wertschätzungen – › Fant a stisch ‹ , › Herrlich ‹ , › Erstaunlich ‹ . Als wir das Theater zum zweiten Mal umrundet hatten, mittlerweile in der vollen Hitze des Tages, hatte ich eine Gelegenheit, die über die nichts s a genden Adjektive hinausging.
Magruder schlug vor, was der Frau und mir bisher nicht in den Sinn gekommen war, auf die graue Tribüne über der Bü h ne zu gehen, von wo aus man das gesamte Theater überblicken konnte. »Sie werden sehen «, versprach Magruder, »wir sehen alles so, wie sie es gesehen haben. « Es schien ein vernünftiger Vorschlag zu sein, auch wenn wir in Wahrheit nur etwa ein Hundertstel dessen sehen würden, was sie gesehen hatten.
Mit fünfzehn oder sechzehn hatte mich die Musik von He n ri Roussel fasziniert, eine jener fatalen, blinden Leidenschaften der Pubertät, und ich war begierig gewesen, seine Musik j e dem vorzuspielen, der sie hören wollte. Eines Abends brachte ich eine Schallplatte Roussels zu einem Nachbarn mit, der endlich eingewilligt hatte, sie sich mit mir zusammen anzuh ö ren. Ich legte sie auf den Plattenteller und lehnte mich zurück, und ich wartete darauf, seine erste angenehm überraschte R e aktion z u s ehen. Am Anfang hörte sich die Platte so an wie immer; aber nach einer Weile hatte ich ein vollkommen neues Erlebnis: ich hörte die Platte so, wie er sie hörte. Anstelle des Charmes und der Energie, die ich vom früheren Anhören in Erinnerung hatte, hörte ich etwas Schlüpfriges und Frivoles. Ich begriff, dass ich durch einen Trick der Sympathie die M u sik mit den Ohren meines Nachbarn hörte. Es hörte sich schrecklich an. Ich nahm die Platte vom Plattenteller und machte höfliche Konversation, wobei ich versuchte, die Mauer des schlechten Geschmacks niederzureißen, die ich so une r wartet entdeckt hatte. In einem geringeren Ausmaß hatte ich ein ähnliches Gefühl, als wir drei auf der Tribüne über den Ruinen des Theaters saßen.
Während ich neben Magruder saß, verspürte ich denselben unwillkürlichen Reflex geteilter Vision, den ich vor Jahren erlebt hatte. Meine eigene Wahrnehmung des Raums vor uns löste sich unter dem Druck von seiner auf. Was Magruder sah, spürte ich mit entschiedenster Gewissheit , war ein weites Feld, wo die weißen Steine über dem Rasen zu schweben schienen. Hinter dieser Säule konnte man sich verstecken; auf jenem gesprungenen Fundamentstein konnte man spielen. Jeder ei n zelne behauene Stein war ein isoliertes Phänomen, welches, sich als ein Objekt, ähnlich allen anderen Objekten auf dem Feld, darbot. Durch seine Augen sah ich die Einzelheiten der Steine deutlicher als zuvor – man könnte sagen, die Bruchstücke drängten sich nachdrücklicher als bisher in meine Wahrnehmung. Magruders Fotografie des Theaters wurde über meine gelegt.
Wir waren alle drei stumm. Je länger ich Magruders Vers i on des Feldes betrachtete, desto schwebender und einladender sah es aus. Es war die Welt, die wir heraufbeschwören, wenn wir sagen, dass etwas › fantastisch ‹ , › herrlich ‹ , oder › erstau n lich ‹ ist. Es ist immer noch unse r e igen, aber wie auf gehei m nisvolle Weise in eine andere Tonart übertragen. Magruder sah den Umriss des Theaters überhaupt nicht, und die Stapel we i ßer Steine hatten für ihn eine magische Unordnung, eine be i nahe göttliche Irrelevanz.
Auf der anderen Seite neben mir saß die Frau. Ich versuc h te, so wie in Magruders in ihr Bewusstsein einzudringen, und für eine Sekunde – aber nur so lange – nahm ich eine Version des Theaters wahr, in der die Umrisse, die ich gesehen hatte, und Magruders zusammenhanglose Steinhaufen im Schatten der Holzbühne unter uns verschwanden. Aber dann verblasste es wieder, es war zu bewusst erzwungen; ich konnte nicht s a gen, ob es lediglich meine Vorstellung von dem war, was sie sehen würde.
Ich stand auf und sah über die gleißende Mulde. Ein junger Mann und eine Frau, beide in Levis und Baumwollhemden, kamen von der schläfrigen Kartenverkäuferin die
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