Strom der Sehnsucht
Claire trat die Reise an und schrieb gleich, daß sie heil angekommen war. Mehr als einmal hörte Angeline ihre Tante über ihrer Handarbeit flüstern: »Prinzessin Claire, Prinzessin Claire...«
Die begeisterten Briefe wurden immer spärlicher und nichtssagender, schließlich kamen gar keine mehr. Nach Wochen des Schweigens kehrte Claire klammheimlich nach Hause zurück. Mit gehetztem Gesichtsausdruck und Augen, die tief in den Höhlen lagen, erzählte sie, daß Maximilian von Ruthenien tot sei und daß sein Mörder auch auf sie geschossen habe, um einen Doppelselbstmord vorzutäuschen. Sie sei dabei von einer Kugel getroffen worden und in Ohnmacht gefallen. Als sie schließlich wieder zu sich gekommen sei, habe Max tot neben ihr gelegen, und sie sei Hals über Kopf nach Frankreich geflohen. Dort habe sie einige von Maximilians Geschenken zu Geld gemacht, so daß sie nach Le Havre gelangen konnte, um sich nach Louisiana einzuschiffen. Sie habe die ganze Zeit befürchtet, daß ihr Rolf auf den Fersen sei. Wieder und wieder nannte Claire ihn einen Satan.
Und nun stand dieser Mann vor Angeline und verbeugte sich; sie wich zurück.
»Meine Liebe«, sagte Helene Delacroix, »laufen Sie doch nicht weg. Seine Hoheit hat den Wunsch geäußert, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Er lächelte bei diesen Worten ironisch. Seinen anmaßenden Blick ließ er über die kastanienbraunen Ringellocken gleiten, die ihr Gesicht umrahmten. Dann fiel sein Auge auf die zarte Wölbung ihres Busens, die das weiße, mit smaragdgrünem Band eingefaßte Musselinkleid preisgab. Es war eine abgelegte Robe von Claire, mit griechischen Ärmeln und weitem Rock, der in einer Halbschleppe auslief. Angelines hübsche, gleichmäßige Figur ließ den Prinzen ungerührt, doch das leichte Beben der Hände in den weißen schulterlangen Spitzenhandschuhen faszinierte ihn offenbar.
»Tanzt Ihr, Mademoiselle?« fragte er sie in aufreizendem Ton.
Angeline sah ihre Tante hilfesuchend an, die sogleich den Kopf schüttelte. »Ich bedaure, Königliche Hoheit...«
»Unsinn«, rief die Dame des Hauses. »Ich habe Sie doch heute abend schon mit meinem Sohn über die Tanzfläche wirbeln sehen!«
Madame de Buys sträubte sich. »Aber Helene, wenn meine Nichte Bedenken hat, sollten wir ihr nicht zusetzen.«
»Aber, ma chere! Gerade sie, meine ich, ist doch die letzte, die vor Scheu in den Boden versinken sollte. Einen Prinzen kann man doch unmöglich abweisen! Seine Aufforderung ist wie königlicher Befehl.«
»Wir sind nicht seine Untertanen«, protestierte Berthe de Buys.
»Aber er ist unser Gast.«
»Das macht nichts«, fiel der Prinz ein und sah Angeline mit glühenden blauen Augen voller Herausforderung an. »Wenn Mademoiselle sich ängstigt, werde ich nicht darauf bestehen.«
Ärgerliche Röte stieg Angeline in die Wangen. »Keineswegs.«
»Nun, wenn es so ist...« Er bot ihr den Arm, und die Musikanten spielten wieder auf.
Hatte sie denn eine andere Wahl, da die Augen aller Anwesenden auf sie gerichtet waren? Und wenn sie sich weigerte, würde das bei ihm nicht erst recht Verdacht erregen? Sie setzte eine hochmütige Miene auf und schritt an seiner Seite zur Tanzfläche.
Sie waren das einzige Tanzpaar, und das war für Angeline um so qualvoller, als der Mann, der sie führte, sie durchdringend ansah.
»Angeline«, murmelte er mit sonorer Stimme, »der Name paßt zu der Pose der blassen, leidenden Unschuld, die Ihr hier heute abend einnehmt, aber in meinem Land nannte man Euch Claire.«
Sie richtete sich auf und sah ihn an. »Pardon?«
»Ich muß Euch gratulieren - das war eine gute Idee. Aber ich habe weder Zeit noch Lust, mit Euch Versteck zu spielen. Ich muß Euch sprechen.«
»Ich glaube, Euer Hoheit unterliegen einem Irrtum«, antwortete sie und runzelte die Stirn. »Ich bin nicht...«
»Bildet Ihr Euch etwa ein, daß ich Euch nicht erkenne?« fiel er ihr ins Wort. »Wir sind einander zwar nie vorgestellt worden, das ist richtig. Aber ich habe Euch häufig mit meinem Bruder zusammen gesehen, sowohl beim Ausritt als auch im Theater.«
»Ihr sprecht offenbar von meiner Kusine Claire, Königliche Hoheit. Angeblich sehe ich ihr entfernt ähnlich, aber ich versichere Euch, daß ich Angeline Fortin bin.«
Warum hatte sie damit nicht gerechnet? Claire und sie waren fast gleichaltrig, und man hatte sie als Kinder oft für Zwillinge gehalten. Seit ihre Eltern am Fieber gestorben waren, lebte Angeline bei ihrer Tante, deren Mann der Bruder ihrer
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