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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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früher, was vielleicht durch den Einsatz des Rollstuhls oder der Krücken kam, die neben ihm auf dem Boden lagen. Seine ausgestreckten Beine ruhten, mit einer Decke zugedeckt, auf einem Fußschemel. Cals Blick war auf den Fernseher gerichtet. Jemand, den Margo für Junior hielt, lag rücklings auf dem Boden und schlief. Die Gestalt war ellenlang, hatte die Hände unter dem Nacken verschränkt und trug Kopfhörer. Robert Murray, der jetzt elf sein musste, hockte im Schneidersitz auf der Couch und schaute ebenfalls gebannt auf den Fernseher. Toby und Tommy, beide sieben, saßen mit dem Rücken zu ihr. Was Margo schockierte, war die Reglosigkeit im Raum – bis auf die Bewegungen, die Joannas Hände mit Nadel und Faden machten. Sie passte so gar nicht zu dem einstigen quicklebendigen Flussparadies, von dem sie alle einmal Teil gewesen waren.
    In der Annahme, durch Laub und Dunkelheit gut geschützt zu sein, beugte Margo sich auf dem Baum möglichst weit zum Fenster. Wenn sie nur irgendwie Juniors Aufmerksamkeit erregen könnte! In diesem Augenblick schaute Joanna hinaus. Ihr Gesicht sah so traurig aus, dass Margo schlucken musste. Wie naiv von ihr, zu glauben, dass die Murrays nach allem, was sie durchgemacht hatten, immer noch die Familie waren, wie sie sie kannte: stets zu Späßen, Streichen und Jagdausflügen aufgelegt. Ob Joanna sich je Sorgen um sie machte? Natürlich hatte Joanna genügend anderes, um das sie sich Sorgen machen musste, zum Beispiel Billy und vor allem Cal. Margo konnte die Traurigkeit und Erschöpfung in Joannas Gesicht gut verstehen. Sie musste diese Traurigkeit selbst jeden Morgen aus den Gliedern schütteln, um aufzustehen und die Kraft aufzubringen, sich auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen.
    Über ihren Kopf sauste ein Flughörnchen mit weißem Bauch. Ihr Großvater hatte diese Wesen, wenn er sie nachts zu Gesicht bekam, als »Elfen« bezeichnet – so, wie er auch Margo manchmal genannt hatte. Als sie ihr Gewicht verlagerte, rutschte sie leicht ab. Haltsuchend griff sie nach einem Ast, und als sie wieder ins Wohnzimmer blickte, sah Joanna sie an. Langsam hob Margo die Hand, doch anstatt zu winken, machte sie ein Friedenszeichen, wie der jagende Indianer aus Michaels Buch es vermutlich gemacht hatte, um zu verbergen, dass in ihm das Herz eines Bärenmarders schlug. Nach einem raschen Blick auf Cal und ihre Söhne legte Joanna ihre Näharbeit beiseite – es war Juniors Jacke mit dem auf den Rücken gestickten Hanfblatt. Margo ließ sich vom Baum gleiten, folgte Joanna außerhalb des Hauses, ging die Holzstufen hoch und wartete an der zum Fluss zeigenden Küchentür in einem Schwarm von Stechmücken. Sie nahm die Marlin von der Schulter und lehnte sie an die Hauswand, wo Joanna sie nicht sehen würde. Da öffnete Joanna auch schon die Tür und hielt sich vor Überraschung am Griff fest.
    »Margaret!«, sagte sie leise. »Bist du es wirklich?«
    Margo nickte.
    »Was hast du hier zu suchen?«
    Margo holte Luft, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus. Vielleicht las Joanna den Schmerz in ihrem Gesicht, denn sie schlug einen milderen Ton an.
    »Dünn bist du geworden! Und dein Haar, dein schönes Haar, es ist …«
    Margo fasste sich an den Kopf, befühlte ihr Haar und wischte ein paar Kiefernnadeln weg. Sie hatte sich nicht mehr die Haare gewaschen, seit sie Michael vor drei Wochen verlassen hatte.
    »Ich könnte eine Dusche gebrauchen«, sagte sie.
    »Ach, Elfe, du bist es wirklich.« Joanna beugte sich vor, als wollte sie Margo in den Arm nehmen oder eingehender ansehen, wich aber sofort wieder zurück und warf einen ängstlichen Blick auf die Wohnzimmertür in ihrem Rücken. »Oh, Liebes, geht es dir gut?«
    »Ja, alles okay. Ich war gerade im Wald Pilze sammeln.« Auch sie flüsterte jetzt. Es roch nach Zimtbrot, das Joanna wohl fürs Frühstück am nächsten Tag gebacken hatte, und nach fettem Fleisch.
    »Ich dachte, du wärst bei deiner Mama, Elfe. Du hast uns doch diese Nachricht hinterlassen. Onkel Cal war böse auf dich. Er ist es immer noch.«
    »Ich weiß.« Als Margo ihren alten Kosenamen hörte, wurde ihr schmerzlich bewusst, was sie alles verloren hatte.
    »Du hast seine wertvollste Büchse gestohlen.«
    Margo warf einen flüchtigen Blick auf die an der Wand lehnende Marlin und nickte. Zu gern hätte sie gefragt, ob sie hereinkommen, sich waschen und ein paar Minuten still in der Küche sitzen dürfte. Mit erstickter Stimme begann sie: »Könnte ich –«, dann

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