Stromschnellen: Roman (German Edition)
brach sie ab.
»Was willst du von uns?« Joanna fing an zu weinen, und Margo stellte fest, dass auch sie weinte.
»Ich möchte für eine Weile zu euch kommen«, sagte sie. »Bis ich zu meiner Mutter kann.« Annie Oakley hatte ihre Mutter angefleht, sie wieder zu Hause aufzunehmen.
»Ach, Margaret. Ich könnte weiß Gott deine flinken Hände hier im Haus gebrauchen!« Wieder warf Joanna einen Blick auf die Wohnzimmertür. »Ich möchte nicht, dass uns jemand hört. Kanntest du den Mann, der Cal die Beine gebrochen hat? Er musste ins Gefängnis. Im Gerichtssaal hat er allen erzählt, dass er es gemacht hat, um Cal dafür zu bestrafen, was er einem ›gewissen jungen Mädchen‹ angetan hatte. Das waren harte Zeiten für Cal, alle dachten das Schlimmste von ihm.«
»Ich wollte nicht, dass er Onkel Cal wehtut«, sagte Margo. Sie blickte auf Joannas nackte Schienbeine und die ihr wohlbekannten abgetragenen Lederschuhe hinab. Joanna war Gott sei Dank dieselbe geblieben. Margo spürte die Stechmücken in ihrem Gesicht, rührte sich jedoch nicht. Eine ließ sich auch auf Joannas Wange nieder, aber Margo hoffte, dass sie die Tür noch nicht zumachen würde.
»Seit Kurzem geht er an Krücken. Wir sind voller Hoffnung.«
»Ich hab ihn gesehen«, sagte Margo. »Mit Julie.«
Joanna verengte die Augen zu Schlitzen.
Auch Joannas selbst genähtes blau geblümtes Kleid kannte Margo noch. Die Farben waren mittlerweile etwas verblasst, aber noch nie hatte Margo ein Kleid so geliebt wie Joannas in diesem Moment. Joanna öffnete die Augen wieder und sagte kopfschüttelnd: »Weißt du, mit einer guten Ehe ist es eine merkwürdige Sache: Sie lässt dich an deinen Mann glauben, egal, was die Leute reden.«
Margo sah unverwandt in Joannas müdes Gesicht. Joanna wiederum schien in Margos Gesicht nach einem Fingerzeig zu suchen, was eigentlich passiert war. Joanna war immer das genaue Gegenteil von Margos Mutter gewesen: streng, unscheinbar und fleißig (während Luanne nachsichtig, hübsch und stinkfaul war), bescheiden und fromm (während ihre Mutter zur Extravaganz neigte). Sie waren so verschieden wie Brian und Michael.
»Ich nehme es deiner Mutter übel, dass sie dich nicht mitgenommen hat. Falls ich etwas mit ihrem Fortgang zu tun habe, tut es mir leid.«
Margo verstand nicht, was Joanna damit sagen wollte.
»Wo wohnst du? Bei Freunden?«
Margo zögerte, aber als sie Joannas besorgte Miene sah, sagte sie nickend: »Bei einem Freund.«
»Cal hat jemanden von der Schulbehörde in sämtlichen Schulen der Gegend nach dir suchen lassen, aber du bist nirgends angemeldet. So kann man doch nicht aufwachsen: eine Schulschwänzerin, die sich nachts herumtreibt! Lass mich nachdenken. Ich will sehen, ob du bei uns wohnen kannst, bis wir deine Mutter gefunden haben.«
Margo wollte Joanna nicht widersprechen, schon gar nicht, wenn es um ihre Mutter, ihren, also Margos, weiteren Verbleib oder die Schule ging. Vielleicht würde es ihr jetzt, nachdem sie zwei Jahre versäumt hatte, leichter fallen, zur Schule zu gehen. Sie wäre mit neuen, jüngeren Kindern zusammen. Außerdem hatte sie von Kindern gehört, die die Schule nur zeitweilig besuchten.
»Ich hab ihre Adresse«, berichtete Margo. »Sie hat mir geschrieben. Sie hat gesagt, sie ist noch nicht so weit, mich wiederzusehen.«
»Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, aber die Firma deines Onkels läuft nicht gut.« Wieder warf Joanna einen Blick über die Schulter.
Margo nickte.
»Pass auf, dass die anderen dich nicht sehen, wenn sie in die Küche kommen. Billy macht einen Riesenaufstand, wenn er dich entdeckt. Er ist immer noch sauer wegen Grandpas Boot.«
»Hat man Billy denn nicht eingesperrt?« Margo rutschte das Herz in die Hose.
»Ach, woher! Er hatte ein paar Scherereien, aber er ist längst wieder auf freiem Fuß. Hast du das nicht mitgekriegt?«
»Aber die Polizei hat ihn doch mitgenommen, als er meinen Vater erschossen hat.«
»Ja, um ihn zu vernehmen und ein Gutachten zu erstellen.« Joanna sah sie merkwürdig an. »Das war alles. Es war Notwehr, er hat seinen Vater verteidigt. Das habt ihr beide der Polizei gesagt – du und Billy. Und Cal auch.«
»Oh …« Margo war verwirrt. »Ich würde Junior so gern Hallo sagen.«
»Junior ist in Alaska.«
»In Alaska? Mit Onkel Loring?«
»Er hat die Militärschule abgeschlossen. Danach hat er wieder eine Zeit lang zu Hause gewohnt, aber er und Cal haben sich ständig in die Haare gekriegt, darum ist er mit einem
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