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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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las den letzten Satz noch einmal. Beim Abdrücken hatte sie nicht an Pauls Frau gedacht und auch nicht an die drei Kinder, die jetzt ohne Vater aufwachsen mussten.
    Manchmal beobachtete sie vom dunklen Fluss aus das Haus ihres Vaters und die Fremde, die jetzt darin wohnte: eine große, gebeugte, grauhaarige Frau, die Margo vor ein paar Jahren mal auf einer Thanksgiving-Party gesehen hatte. Die Frau rauchte Pfeife wie ein Mann. Margo sah, wie sie Abfälle in eine tiefe Grube warf, die jemand hinter dem Haus gegraben hatte. Sie traute sich nicht näher heran, weil die Frau sich einen weißen Pit Bull hielt; sie hatte ihn an das Schaukelgestell gekettet, an dem Margo vor zwei Jahren noch ihre Hirsche aufgehängt hatte. Margo wurde klar, dass sie ihr erlegtes Wild damals an einer gut einsehbaren Stelle aufgebrochen und aus der Decke geschlagen hatte und dass bestimmt alle Murrays es mitbekommen hatten. Ihr Vater hatte recht gehabt: Sie war leichtsinnig gewesen. Ihr tat der weiße Hund an der Kette leid, aber als sie sich einmal näher heranwagte, fing er wie ein Verrückter an zu kläffen und zerrte an der Kette, als wollte er sich auf sie stürzen. Die Alte kam mit einer Pistole herausgelaufen und rief in die Dunkelheit: »Wer ist da draußen?«, aber da war Margo schon wieder auf dem Wasser und ruderte davon.
    Am darauffolgenden Tag streifte sie mittags gerade flussaufwärts durch die Wälder, als sie einen weißen Laster der Metallfabrik in die Auffahrt des Marihuanahauses einbiegen sah. Mühsam stieg ein hochgewachsener Mann aus und lehnte sich gegen den Türholm, bis er seine Krücken zu fassen bekam. Margo war zu weit weg, um sein Gesicht zu erkennen, aber sie wusste trotzdem, wer er war. Der Mann sperrte die Tür auf und betrat das kleine Haus. Margo hoffte, dass sie das Sperrholzbrett wieder so ans Fenster gedrückt hatte, dass er nicht merkte, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Wenige Minuten später lief ein dunkelhaariges Mädchen zur Tür. Es blickte einmal nach rechts und links und huschte hinein. Julie Slocum! Margo ging nicht näher heran, sondern begab sich zu ihrem stromaufwärts gelegenen Lager. Wie dumm und unfreundlich von ihr, dass sie je auf die arme Julie wütend gewesen war!
    Abends ruderte Margo zum Haus der Murrays und kletterte die Uferböschung hoch, um sich ein wenig an der Scheune umzusehen, neben der sie früher mit Billy und Junior auf Tontauben geschossen hatte. Unter einem Wellblechdach stand einsam ein grunzendes Schwein. Ihr Großvater hatte die Scheune immer wieder gestrichen, aber jetzt blätterte die rote Farbe flussseitig auf ganzer Länge ab. Der weiß getünchte Schuppen war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Goldener Lichtschein erhellte die Fenster des großen Wohnhauses und vermittelte ein Bild von Geborgenheit und Wärme. Margo fasste sich ein Herz und ging aufs Haus zu. Dabei gab sie acht, die Beagles nicht aufzuscheuchen, aber es ertönte kein Gebell: Der Zwinger war leer. Auch Moe war nirgends zu sehen. Margo stellte sich unter Juniors Fenster und lauschte dem Quieken der Flughörnchen. Gerade wollte sie einen Stein werfen, als sie hinter dem Fenster die Gestalt eines der jüngeren Kinder erblickte. Es war Toby oder Tommy, der herausschaute. Sie spielte mit dem Gedanken, an die Küchentür zu klopfen, fand aber den Mut nicht und ging hinters Haus, um im Garten ein paar Stangenbohnen und Fleischtomaten zu stibitzen. An den Ranken und Stauden hingen mehr holzige Bohnen und faulige Tomaten als sonst, was darauf schließen ließ, dass Joanna mit dem Einmachen im Rückstand war.
    Am nächsten Abend kam Margo wieder, schlich ums Haus und versuchte einen Blick ins Innere zu erhaschen. Das Haus stand auf einem Sockel aus Betonblocksteinen, der es über das Niveau der Jahrhundertflut erhob. Um aus nächster Nähe ins Wohnzimmer schauen zu können, kletterte Margo deshalb auf einen alten Apfelbaum. Sie sah Joanna nur wenige Schritte von sich entfernt mit einer Näharbeit in ihrem Sessel sitzen. Sie trug ein blau gemustertes Kleid und hatte das Haar wie üblich hinten zu einem Knoten zusammengefasst. Sie ließ die Schultern etwas mehr hängen, ihr Gesicht war ein weniger faltiger und ihre Hände abgearbeiteter als vor anderthalb Jahren, aber Cal, der ein Stück weiter weg saß, sah völlig verändert aus. Obwohl er nicht viel älter als vierzig sein konnte, hatte er graues Haar, und sein Gesicht wirkte verhärmt und ernst. Arme und Schultern waren kräftiger als

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